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Hartz IV - "Fördern und Fordern"?
Klaus Schramm
Selbst die "Bundesagentur für Arbeit" (BA) mußte es nun eingestehen: Nach einer vergangenen Mittwoch veröffentlichten Studie funktioniert das als "Fördern" propagierte Ziel von Hartz IV, die Betroffenen "in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren" nur in Ausnahmefällen. Laut den von der BA vorgelegten Zahlen können gerade einmal 3,4 Prozent der erwerbsfähigen Bezieher von Arbeitslosengeldes II - und dies ist bereits eine künstlich sehr eng begrenzte Auswahl - in Jobs in der Wirtschaft vermittelt werden. Bereits im März wies eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung nach, daß die Hartz-Gesetze in der Gesamtbilanz eine negative Wirkung aufweisen. Immer mehr Menschen in Deutschland steigen sozial ab. Auch die Mittelschichten wurden seit 2002 um acht Prozent geschrumpft. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kam in einer ebenfalls im März veröffentlichten Studie zum selben Ergebnis. Zu den Mittelschichten werden in der Soziologie jene Personen gezählt, die in Haushalten mit 70 bis 150 Prozent des Durchschnittseinkommens leben. Über einen langen Zeitraum in der Geschichte der Bundesrepublik stellten die Mittelschichten stabil 62 Prozent der Bevölkerung. Es war - vereinfacht formuliert - jener Teil des früheren Proletariats, der sich für Automobil und Eigenheim in die "bürgerliche Existenz" locken ließ und so den sozialen Kitt zum Erhalt des Kapitalismus bildete. Doch bereits seit der Jahrtausendwende - und zugleich seit Überschreiten des globalen Peak Oil im Jahr 2001 - können die gewohnten Profitraten nicht mehr allein aus der Steigerung der Produktivität, sondern nur noch bei zunehmendem Sozialabbau erzielt werden. Dies hat in den vergangen acht Jahren unter anderem dazu geführt, daß die Mittelschichten erodieren. Bis 2006 sank deren Anteil an der Gesamtbevölkerung von 62 auf 54 Prozent - eine Umschichtung um rund 6,4 Millionen Menschen, die sich als Teil der Unterschichten wiederfinden. Seit dem Jahr 2000 stieg der Anteil der Unterschichten um gut 7 Prozent - 2006 machten sie mit rund 20 Millionen bereits ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus. Laut DIW-Studie sind besonders Familien mit minderjährigen Kindern immer stärker von sozialem Abstieg bedroht. Ein weiteres Merkmal der sozialen Veränderungen stellt die Abnahme der Vollzeitjobs dar. Der Anteil der Menschen mit Vollzeitjob sank von 64 Prozent im Jahr 2000 auf nunmehr 55 Prozent. Und wie die DIW-Studie ergab, verfügen zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung über gar keine oder nur geringe Besitztümer. Das reichste Zehntel hingegen nennt knapp 60 Prozent des in Deutschland vorhandenen Vermögens sein Eigen. Sozial abgestiegen sind auch alle, die vom Staat Geld beziehen: RentnerInnen, Erwerbslose, Kindergeld- und BAFöG-EmpfängerInnen. Deren Einkommen sank in den vergangenen drei Jahren real um fast 6 Prozent. Den Rückgang erklären die WissenschaftlerInnen mit "Nullrunden bei den nominalen Renten, stagnierenden nominalen Leistungen bei Kindergeld, BAFöG und anderen staatlichen Leistungen." Seit der Einführung von "Hartz IV" zum Januar 2005 mit dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) sind in Deutschland die Bedingungen an die Auszahlung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, die ab diesem Zeitpunkt zum ALG II zusammengelegt wurden, rigoros verschärft worden. Mit der propagierten Formel des "Fördern und Fordern" wurde ein sogenanntes Aktivierungsprinzip eingeführt, das zur Schikane von Erwerbslosen und zur Schönung der Statistiken dient. Schon der Begriff "Aktivierungsmaßnahme" stellt eine versteckte Diskriminierung dar. Er unterstellt, daß passive Erwerbslose erst gedrängt werden müßten, sich aus ihrer unerfreulichen Lage zu befreien. So haben detaillierte Studien ergeben, daß 90 bis 95 Prozent der an einer "Aktivierungsmaßnahme" Beteiligten ohnehin eine Arbeit gefunden hätten. Selbst wenn die "Aktivierungsmaßnahmen" mehr Menschen als je zuvor erreichen, können sie nicht als effektiv bezeichnet werden. Eine interne Evaluation wies nach, daß 50 Prozent der TeilnehmerInnen solcher Kurse einen Job fanden - verglichen mit 48 Prozent bei Nicht-KursteilnehmerInnen. In anderen Worten: Es fand sich keine signifikante Differenz zwischen TeilnehmerInnen und NichtteilnehmerInnen. Wissenschaftliche Untersuchungen legen darüber hinaus nahe, daß die Auswahl der KursteilnehmerInnen selektiv ist, und zwar insofern, als denjenigen die Kursteilnahme ermöglicht wird, die ohnehin eine höhere Chance auf einen Arbeitsplatz haben. Diese Ergebnisse decken sich mit den Erfahrungen der Betroffenen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat dies bereits im Jahr 2007 dokumentiert. Eine Befragung von mehr als 20.000 Arbeitslosengeld-II- und ehemaligen ArbeitslosenhilfeempfängerInnen ergab, daß mehr als zwei Drittel von ihnen weder an eine Verbesserung ihrer Lebenssituation noch an eine Aufwertung ihrer Arbeitsmarktchancen durch Hartz IV glauben. Auch die "Aktivierungsmaßnahmen" werden nicht positiver beurteilt: Mehr als 80 Prozent haben nicht das Gefühl, daß sich jemand um ihre Probleme kümmert. Daß die Annahme von Jobs auch dann verlangt wird, wenn sie weit unter dem eigenen Qualifikationsniveau liegen, erleben knapp 40 Prozent als "Abwertung ihrer beruflichen Erfahrungen und Leistungen". Mit der Furcht vor Verarmung und sozialer Deklassierung lebt fast die Hälfte aller Hartz-IV-Betroffenen. Hier zeigt sich nun der hauptsächliche Zweck, der mit der Einführung der Hartz-Gesetze verfolgt wurde: Die Ausweitung des Niedriglohn-Sektors auf dem Arbeitsmarkt. Innerhalb weniger Jahre hat Deutschland in einem von den Mainstream-Medien kaum beachteten Rennen alle anderen europäischen Länder überholt und liegt jetzt nur noch knapp hinter den USA. Laut einer bereits seit Januar vorliegenden und am 18. April in Amsterdam vorgestellten Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen ist der Anteil des Niedriglohn-Sektors in Deutschland auf 22,2 Prozent angestiegen. In den USA liegt der Anteil der Billig-Jobber bei 25 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet dies, daß heute rund 6,5 Millionen Menschen in Deutschland für weniger als zwei Drittel des durchschnittlichen Stundenlohns (OECD-Definition) arbeiten müssen, für weniger als 9,13 Euro. In den "neuen Bundesländern" liegt diese Grenze bei 6,81 Euro, im Westen bei 9,61 Euro. Unterhalb der Grenze liegen 41,1 Prozent der Beschäftigten im Osten und 19,1 Prozent im Westen. Besonders hart trifft auch diese Form des Sozialabbaus Frauen: 76 Prozent der Niedriglohn-Beschäftigten sind Frauen.1 Und: NiedriglöhnnerInnen sind keineswegs nur gering Qualifizierte. Rund 68 Prozent der Niedriglohn-Beschäftigten haben laut IAQ-Studie entweder eine abgeschlossene Berufsausbildung oder gar einen akademischen Abschluß. Das zeige - so die AutorInnen - , daß die Niedriglöhne den Kern des Arbeitsmarktes erreicht haben. Die "Flexibilisierung" des Arbeitsmarkts hat zudem dazu beigetragen, daß Tariflöhne unterminiert werden. So erhalten neun von zehn LeiharbeiterInnen Niedriglöhne unter 7 Euro. Nachdem "Rot-Grün" die gesetzlichen Hürden gegen die Ausbeutung von LeiharbeiterInnen 2004 beseitigt hat, explodieren Beschäftigtenzahl, Umsätze und Gewinne in der Zeitarbeits-Branche. Rund 1.500 Zeitarbeits-Unternehmen beschäftigen eine Million LeiharbeiterInnen, nutzen deren prekäre wirtschaftliche Lage aus und erzielen damit satte Gewinne. 2006 wurden 75 Prozent aller neu geschaffenen Arbeitsplätze durch LeiharbeiterInnen besetzt. Etwa 40 Prozent des Jahresumsatzes der Branche von zwölf Milliarden Euro erzielen dabei die 15 Branchenführer, allen voran die Schweizer Adecco, der US-Konzern Manpower und der niederländische Konzern Randstadt. Diese drei Branchenführer erzielen Gewinne im zweistelligen Millionenbereich und verzeichnen ein jährliches Wachstum von bis zu 60 Prozent. Der Umsatz von Adecco, stieg allein im zweiten Quartal 2007 um 24 Prozent auf 251 Millionen Euro. Der Gewinn betrug 28 Millionen Euro. Seit 2006 befindet sich der frühere "rot-grüne" Arbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement als Vorsitzender des 'Adecco Institute für die Erforschung der Arbeit' auf der Gehaltsliste des Konzerns. Clement zeichnete von 2002 bis 2005 als "Superminister" für die Deregulierung des Zeitarbeitsmarktes verantwortlich. Die AutorInnen der IAQ-Studie nennen die Ursache beim Namen: "Die Politik hat mit umfassenden Deregulierungen die Schleusen geöffnet für die weitere Ausdehnung der Niedriglohn-Beschäftigung." Dabei steigt nicht nur die Zahl der betroffenen Beschäftigten, sondern gleichzeitig sinkt auch seit 2004 deren durchschnittlicher Stundenlohn - im Westen innerhalb eines Jahres von 7,16 Euro (2005) auf 6,89 Euro (2006), im Osten im gleichen Zeitraum von 5,38 Euro auf 4,86 Euro. Bei einer vierzigstündigen Wochenarbeitszeit ergibt sich so ein Monatslohn von rund 1.100 Euro brutto im Westen und von rund 800 Euro brutto im Osten. 2006 arbeiteten insgesamt 1,9 Millionen Menschen sogar für eine Stundenlohn unter fünf Euro. Innerhalb von nur zwei Jahren sanken 400.000 Beschäftigte in diesen untersten Bereich ab. Eine weitere Folge von Hartz IV besteht darin, daß nun der Staat auch noch den Niedriglohn-Sektor subventioniert. 1,18 Millionen Niedriglohn-Beschäftigte beziehen nach offiziellen Angaben Arbeitslosengeld II, um trotz Arbeit überhaupt über die Runden kommen zu können. Der Staat übernahm unter "rot-grüner" Regie in diesem Bereich zudem auch eine Vorbild-Funktion: Mit der Einführung und dem Einsatz von Ein-Euro-Jobs wurden entgegen der rein dekorativen gesetzlichen Vorschriften reguläre Arbeitsplätze verdrängt und eine Abwärts-Spirale in Gang gesetzt. Immer deutlicher wird inzwischen, daß Ein-Euro-JobberInnen trotz guter Leistungen und viel Engagement von vornherein keine Chance auf eine feste Anstellung haben. Mit der Einführung der Hartz-Gesetze hat die "rot-grüne" Bundesregierung unter Gerhard Schröder nicht nur das Ziel verfolgt, den staatlichen Sozialetat zu reduzieren, sondern in erster Linie, den Niedriglohn-Sektor massiv auszuweiten. Hartz IV hat eben auch den Zweck, BezieherInnen von ALG I zu zwingen, jeden auch noch so schlecht bezahlten Job anzunehmen. Durch die verschärften Zumutbarkeitsregeln wird Druck ausgeübt, auch Jobs mit einer Entlohnung unter Tarif und außerhalb der Sozialversicherung zu akzeptieren. Mehr noch als die Steuerreform des Jahres 2000, die dem Kapital Steuererleichterungen von jährlich über 20 Milliarden Euro verschaffte, war dies ein unschätzbares Geschenk. Seitdem breitet sich der Niedriglohn-Sektor in Deutschland rasant aus. Zugleich wurde so der Einfluß der Gewerkschaften massiv geschwächt.
Anmerkung
1 Siehe auch unseren Beitrag zum Internationalen Frauentag:
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