MONTAGS-DEMO FREIBURG
Redebeitrag vom 22.01.07

Sozialabbau und der Fall Kevin

Viele unter Ihnen werden noch gar nicht bemerkt haben, daß der Fall des in Bremen umgekommenen zweijährigen Kevin etwas mit dem in Deutschland weiter und weiter vorangetriebenen Sozialabbau zu tun hat. Bevor ich den Zusammenhang beleuchte, will ich aber zuerst auf ein in den Medien recht beliebtes Unwort - nicht nur des Jahres, sondern eigentlich schon des Jahrzehnts - eingehen:
überfordert.

Nicht nur hierbei oder beim Wort von der "freiwilligen Ausreise" stand Orwell unfreiwillig Pate.

Als "überfordert" wird heute gerne hingestellt, wer eine als ganz normal geltende Arbeitsleistung nicht bewältigt. Die Schuld wird also - allein durch einen pervertierten Wortgebrauch - dem Beschäftigten zugeschoben. Noch vor zehn oder 15 Jahren war im allgemeinen Sprachgebrauch klar, daß als überfordert zu gelten hat, wer mit übermäßigen Anforderungen belastet wurde.

Sehen wir uns also an, wie in der Berichterstattung über den Fall Kevin mit dem Gebrauch des Worts "überfordert" manipuliert wird.

In der 'Badischen Zeitung' wurde am 18. Januar zwar reichlich kurz aber ganz korrekt berichtet:

Kevins Amtsvormund: Arbeitsbelastung zu hoch

BREMEN (stg). Der Amtsvormund des tödlich misshandelten Kevin hat seine Vorgesetzten mehrfach erfolglos auf seine Arbeitsüberlastung hingewiesen. Das berichtete der 64-Jährige am Mittwoch vor dem Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft, der den Tod des zweijährigen Jungen aufklären soll. Nach Sparmaßnahmen hätten im Jugendamt zuletzt nur noch drei Vormünder auf 2,75 Planstellen 640 Kinder betreut. "Das ist nicht leistbar" , klagte der Diplom-Sozialarbeiter als Zeuge. Immer wieder hätten er und seine Kollegen die Vorgesetzten auf diese Belastung hingewiesen, auch mit förmlichen Überlast-Anzeigen. Auch die inzwischen zurückgetretene Jugend- und Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) habe er die Zustände "deutlich geschildert" .

Es kommt zwar selten in die Schlagzeilen - aber Stellenstreichungen und Arbeitsverdichtung sind nicht nur ein beliebtes Spiel in der Privatwirtschaft, sondern auch Landesregierungen - gleich welcher Couleur - , ebenso wie Kreis- und Stadtverwaltungen treiben diese Form von Sozialabbau bereits seit Jahren Scheibchen für Scheibchen voran. Und wenn davon SozialarbeiterInnen betroffen sind - mehr als 200 Kinder pro BetreuerIn sind leider heute keine Ausnahme mehr - ist dies zugleich Sozialabbau auf dem Rücken der betroffenen Kinder und deren Familien. Aber Deutschland ist eh das kinderfeindlichste Land in ganz Europa. (Siehe hierzu auch: Sozialabbau und Kinderarmut)

Zum Vergleich, was alles in dem kurzen BZ-Artikel fehlte, will ich hier einmal die zugrunde liegende Meldung der Presseagentur ddp vortragen:

Amtsvormund schweigt zu Kevin
64-Jähriger betreute 240 Kinder

Bremen (ddp). Vor dem Untersuchungsausschuss zum Tod des zweijährigen Kevin aus Bremen hat der frühere Amtsvormund des Jungen über eine extreme Arbeitsbelastung geklagt. Es gebe für 640 Kinder in Bremen lediglich drei Amtsvormunde, sagte der 64-Jährige vor dem Ausschuss. «Das schlechte Gewissen, weil sie sowieso nicht alles schaffen, das schiebt man vor sich her», betonte der Sozialarbeiter. Er betreue im Schnitt 240 Kinder. Nur 30 Prozent von ihnen kenne er gut. Zum Fall Kevin verweigerte er die Aussage. Der frühere Fallmanager des Jungen erschien nicht vor dem Ausschuss. Er hatte sich zuvor krank gemeldet. Ein neuer Anhörungstermin steht noch nicht fest.

Die Amtsvormunde hätten sich in der Vergangenheit mehrfach bei der Amtsleitung über ihre Arbeitssituation beschwert, sagte der Sozialarbeiter, der in Begleitung seines Anwalts erschienen war. Geändert habe sich aber nichts. Erst nach dem Tod von Kevin hatte der Senat angekündigt, die Zahl der Amtsvormunde auf sechs zu erhöhen.

Zugleich sagte der Zeuge, dass die Leitung des Jugendamts sehr auf die Kosten von Erziehungsmaßnahmen geachtet habe. Der Amtsvormund berichtete von einem Mündel, für das er im Januar 2005 auf Empfehlung des Gesundheitsamtes eine besonders teure Maßnahme beantragt habe. Erst im Oktober 2005 habe die Amtsleitung darüber entschieden. Dies habe rein finanzielle Gründe gehabt, sagte der Sozialarbeiter.

Gegen ihn sowie den früheren Fallmanager Kevins ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Verletzung der Fürsorgepflicht.

Zwischenfrage: Warum wird nicht gegen die verantwortliche Bremer Senatorin Karin Röpke von der SPD wegen Amtspflichtverletzung ermittelt?

Vor dem Untersuchungsausschuss hatten Zeugen dem Fallmanager wiederholt schwere Versäumnisse vorgeworfen. Er habe regelmäßig nicht auf Warnhinweise reagiert, die auf eine Misshandlung Kevins hindeuteten. Eine Familienhebamme hatte den Fallmanager als «sehr unengagiert und konzeptlos» beschrieben.

Eine Kollegin des Jugendamtmitarbeiters beschrieb diesen als «angenehmen, netten Menschen». Sie habe wenig Einblick in seine Fälle gehabt. Alle seien in ihrer Arbeit sehr überlastet gewesen. Ein einziges Mal hatte die 57-Jährige mit Kevins Familie Kontakt. Nach einem polizeilichen Notlagenbericht hatte sie die Familie aufgesucht, weil der zuständige Fallmanager nicht da gewesen sei. Sie habe keine Notwendigkeit gesehen, das Kind in Obhut zu nehmen.

Sie habe immer im Hinterkopf gehabt, dass die Familiengerichte das Recht der Kinder, bei ihren Eltern zu leben, sehr hoch hielten. Bevor Kinder aus Familien genommen würden, müssten erst andere Hilfen fehlgeschlagen sein. Nach dem Tod von Kevin würden nun Kinder schon viel früher in Obhut genommen, sagte die Zeugin.

Kleine Anmerkung hierzu: Es geht hier keinesfalls um sogenanntes Recht von Kindern, bei ihren Eltern zu leben, sondern nach wie vor um die altertümliche Vorstellung, Eltern hätten das Recht, ihre Kinder grün und blau zu schlagen und zugleich um die Vermeidung von Kosten, die der Staat übernehmen müßte, wenn er sich geschundener Kinder annehmen würde.

Kevin war im Oktober 2006 tot im Kühlschrank seines drogenabhängigen Ziehvaters gefunden worden. Der Junge war vermutlich schon Ende April oder Anfang Mai an den Folgen schwerster Misshandlungen gestorben, obwohl er unter der Obhut des Bremer Jugendamtes stand.

Soweit die ddp-Meldung.

In der ZEIT, immerhin einem renommierten Blatt, war dagegen am 17. Januar folgendes zu lesen:

Fall Kevin: Vorerst keine Aussage von Fallmanager

Vor dem Untersuchungsausschuss zum Tod des zweijährigen Kevin aus Bremen wird der frühere Fallmanager des Jungen zunächst nicht aussagen. Der Sozialarbeiter hat dem Ausschussvorsitzenden ein ärztliches Attest vorgelegt.

Bremen - Der Mitarbeiter des Jugendamtes war am selben Tag als Zeuge geladen. Ein neuer Anhörungstermin steht noch nicht fest. Nach Angaben der Bürgerschaft kann der Zeuge vor dem Ausschuss zwar seine Aussage verweigern, muss aber zumindest erscheinen und seine Personalien angeben, wenn er wieder gesund ist.

Ob der ebenfalls für Mittwoch geladene frühere Amtsvormund des Jungen vor dem Ausschuss erscheint, war zunächst noch unklar. "Bislang liegt kein ärztliches Attest von ihm vor", sagte ein Sprecher der Bürgerschaft. Bis kurz vor Beginn der Sitzung könne dies jedoch eingereicht werden.

Schwere Vorwürfe gegen Fallmanager und Amtsvormund

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Fallmanager und den Amtsvormund wegen des Verdachts der Verletzung der Fürsorgepflicht. Vor dem Untersuchungsausschuss hatten Zeugen dem Sozialarbeiter schwere Versäumnisse vorgeworfen. Er habe regelmäßig nicht auf Warnhinweise reagiert, die auf eine Misshandlung Kevins hindeuteten. Eine Familienhebamme beschrieb den Sozialarbeiter als "sehr unengagiert und konzeptlos". Am Nachmittag sollte eine seiner Kolleginnen aus dem Sozialzentrum Gröpelingen/Walle als Zeugin aussagen.

Kevin war am 10. Oktober 2006 tot im Kühlschrank seines drogenabhängigen Ziehvaters gefunden worden. Der Junge war vermutlich schon Ende April oder Anfang Mai an den Folgen schwerster Misshandlungen gestorben, obwohl er nach dem Tod seiner Mutter im November 2005 unter der Obhut des Bremer Jugendamtes stand.

Vor dem Untersuchungsausschuss zum Tod des zweijährigen Kevin aus Bremen wird der frühere Fallmanager des Jungen zunächst nicht aussagen. Der Sozialarbeiter hat dem Ausschussvorsitzenden ein ärztliches Attest vorgelegt.

In der ZEIT fallen sämtliche Aussagen, die auf die Überlastung hinweisen, unter den Tisch. Der Artikel ist zwar doppelt so lang wie jener aus der BZ aber nicht halb so informativ und dazu völlig einseitig.

Noch krasser ist ein Artikel der Sachsen-Zeitung, der - basierend auf Aussagen der Vorgesetzten - auf eine Vorverurteilung des Sozialarbeiters hinausläuft:

Sozialarbeiter im Fall Kevin völlig überfordert

Misshandlung. Durch das Versagen der Bremer Sozialbehörden waren offenbar weitere Kinder in akuter Gefahr.

Bremen. Der für den zweijährigen Kevin aus Bremen zuständige Sozialarbeiter hat offenbar weiteren Kindern Hilfe verweigert und sie damit in Gefahr gebracht. Das geht aus der gestrigen Aussage von Innenrevisor Gisbert Tümmel vor dem Kevin-Untersuchungsausschuss hervor. So habe der Sozialarbeiter nicht eingegriffen, als er von Schlägen für ein Kind in der Öffentlichkeit erfahren habe. In einem anderen Fall sei eine drogensüchtige Mutter ins Krankenhaus gekommen, und er habe sich nicht weiter um die Versorgung ihrer Tochter in dieser Zeit gekümmert.

Durchgängig habe der Sozialarbeiter außerdem auf Angaben Dritter vertraut und sich nicht selbst ein Bild gemacht. Er sei völlig überfordert gewesen, sagte Tümmel. Kritik übte er auch an mangelnder Aufsicht durch die Vorgesetzten.

Tümmel war nach dem Fund von Kevins Leiche im Oktober mit der Überprüfung aller 79 Akten des Fallmanagers beauftragt worden. Er hatte nach eigenen Angaben in mehreren Fällen dringenden Handlungsbedarf gesehen. Die Akte des zu Tode gequälten Kevin sei noch am besten geführt gewesen, erklärte er jetzt. Aus seiner Sicht hätten sich die Vorgesetzten die Fälle vorlegen lassen müssen.

Chaos in der Aktenführung

Wie Tümmel weiter erläuterte, wurde in Bremen nach dem Tod von Kevin erstmals ein Sozialarbeiter so genau überprüft. Nach den Angaben des Revisors waren einzelne Akten über das Büro verteilt und unsortiert.

Der Sozialarbeiter habe Ergebnisse der wöchentlichen Fallkonferenzen festgehalten, bevor diese überhaupt stattgefunden hätten. Allerdings sei die Bedeutung der Aktenführung in der Sozialarbeit umstritten, so Tümmel.

Kevin, der unter Amtsvormundschaft stand, war am 10. Oktober 2006 tot im Kühlschrank seines drogensüchtigen Ziehvaters Bernd K. gefunden worden. Die stark verweste Leiche wies 24 Knochenbrüche auf.

Sozialarbeiter hatten das Kind zuletzt im April gesehen. Gegen den für den Fall zuständigen Sozialarbeiter und gegen den Amtsvormund wird wegen Verdachts auf Vernachlässigung der Fürsorgepflicht ermittelt. Nach der von der Bremer Justizbehörde erstellten Dokumentation des Falls hatte der Sozialarbeiter darauf gedrängt, Kevin bei den drogensüchtigen Eltern zu lassen.

Der parlamentarische Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Hintergründe von Kevins Tod hat für heute den Sozialarbeiter und den Amtsvormund geladen. Deren Anwälte haben Aussageverweigerung angekündigt. (AP)

Nochmals der entscheidender Satz aus diesem Artikel:
"Er sei völlig überfordert gewesen, sagte Tümmel."
Und nicht zufällig steht
>>völlig überfordert<<
auch in der Überschrift dieses Artikels.

Ganz offenbar nicht überfordert sind die Vorgesetzten des Sozialarbeiters und andere Verantwortliche auf Landes- oder Bundesebene, wenn es darum geht, den weiteren Sozialabbau zu exekutieren.

Zurück zur Übersichtsseite 'Redebeiträge'

Zurück zur HAUPTSEITE