MONTAGS-DEMO FREIBURG
Redebeitrag vom 7.08.06

Sozialabbau und Kinderarmut

Für die heutige Montags-Demo haben wir uns das Thema »Sozialabbau und Kinderarmut« vorgenommen. Dazu gibt es einige aktuelle Daten, die von den Mächtigen kaum geleugnet werden können. Doch zunächst ein kurzer Rückblick:

Am 24. September 2004 - also schon wenige Wochen nach Beginn der Montags-Demos kommentierte der stellvertretende Chefredakteur der Badischen Zeitung, Thomas Fricker, auf Seite 1:

"Denn offenbar hat aller Streit, haben alle Montagsdemonstrationen den Widerstand gegen Hartz IV und andere scheinbare Grausamkeiten" - scheinbare Grausamkeiten! - "nicht gestärkt, sondern geschwächt."

Das war zu einer Zeit als die Teilnahme an den Montags-Demos noch zunahm!

Und weiter:

"Schröder und Co. waren gezwungen, ihre Politik zu erklären. Viele Bürger informierten sich,... (...) Und wer dies tat entdeckte nicht selten, daß von sozialem Kahlschlag und verordneter Armut die Rede nicht sein kann."

Und seitdem war in der BZ auch kaum etwas anderes zu lesen. Die Sozialausgaben steigen. Neue "Reformen" sind notwendig. Die Ausgaben im Gesundheitswesen explodieren - und andere Lügen mehr...

Weiter war an diesem 24. September 2004 in der BZ auf Seite 1 von Thomas Fricker zu lesen "Aber seit die Montagsdemonstrationen fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden und sich das Meinungsbild in der Öffentlichkeit gewandelt hat..." und so weiter.

Am Tag darauf auf der Titelseite der Samstagsausgabe:
"Reformbereitschaft wächst"
und weiter - kleinere Überschrift auf der BZ-Titelseite:
"Erstmals eine Mehrheit für Schröders »Agenda 2010«"

Das war das unverhohlene Wunschbild - es hat sich nicht ganz erfüllt: Wir sind immer noch da und
viel wichtiger:
Die Deutschen sind keinesfalls mehrheitlich davon überzeugt, daß es ihnen besser geht!

Bereits 2004 wurde bekannt - durch den offiziellen Armutsbericht - , daß die Armut in Deutschland auf 13 Prozent angestiegen war.

Ende 2002 waren 1,02 Millionen Kinder, Ende 2003 bereits 1,08 Millionen Kinder in Deutschland auf Sozialhilfe angewiesen - ein Anstieg um 6,2 Prozent. 2004 leben bereits 1,34 Millionen Kinder von Sozialhilfe. Ein weiterer Anstieg um 24 Prozent.

2005 waren es bereits rund 1,7 Millionen Kinder in Armut - ein Anstieg um rund 25 Prozent.

Dieses Jahr liegen erstmals Zahlen vor, die auf den Erhebungen der Agentur für Arbeit (oder korrekt: Agentur für Arbeitslosigkeit) beruhen. Noch ist 2006 nicht zu Ende, aber die Zahl der Kinder in Armut ist bereits auf rund 2,5 Millionen gestiegen. Ein Anstieg um fast 50 Prozent.

Zum Vergleich: In Deutschland leben rund 15 Millionen Kinder. 2,5 Millionen sind also rund 17 Prozent.

Die Zahl von 2,5 Millionen Kindern wurde am 27. Juli vom Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, gegenüber der Nachrichtenagentur AP bestätigt. Er bestätigte ebenfalls die nicht mehr zu leugnenden Gründe für diesen Skandal in einem der reichsten Länder der Welt und dem Weltmeister des Exports:
Gründe für die zunehmende Kinderarmut in Deutschland seien vor allem die Hartz-IV-Reformen und die schlechte Wirtschaftslage. Den Eltern fehle es an Geld, da die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und durch das niedrigere Arbeitslosengeld II ersetzt wurde. "Das ist eine erschreckende Zahl, die weit höher ist, als wir befürchtet haben", sagte Hilgers gegenüber der 'Neuen Osnabrücker Zeitung'.

Bislang hatte der Kinderschutzbund die Zahl der Kinder bis 18 Jahre, die in einer so genannten Bedarfsgemeinschaft im Sinne des Hartz-IV-Gesetzes von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch XII, dem Asylbewerberleistungsgesetz oder vergleichbaren Leistungen leben, auf rund 2,2 Millionen berechnet.

In einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit für Juni 2006 war bei den Familien Langzeitarbeitsloser nun erstmals auch die Zahl der Kinder zwischen 15 und 18 Jahren aufgeführt. Die lückenlose Datenlage erlaubt genauere Berechnungen als bisher: 2,5 Millionen Kinder in Armut.

"In der Vergangenheit ist der Kinderschutzbund stets beschimpft worden, Horrorzahlen zu verbreiten. Aber die Wahrheit ist viel schlimmer," sagte Hilgers. Weil im Zuge der Hartz-IV-Reformen die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und durch das niedrigere Arbeitslosengeld II ersetzt wurde, habe sich auch die finanzielle Lage vieler Kinder klar verschlechtert. "Die Schere zwischen wohlhabenden und armen Kindern geht immer weiter auseinander", erklärte Hilgers gegenüber der Nachrichtenagentur AP.

Folgen sind Defizite in der Ernährung, ein steigendes Gesundheitsrisiko und geringere Bildungschancen. Doch dazu habe ich bereits vor knapp 2 Jahren eine Reihe eindrücklicher Fakten genannt.

Hilgers unterstrich: "Gesundheit und Bildung sind jedoch die wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung von Kindern." Um Chancenlosigkeit zu verhindern sei die Lösung eine gesetzliche Grundsicherung für Kinder. Das im Moment ausgezahlte Kindergeld sei gerade einmal knapp die Hälfte einer ausreichenden Versorgungsgrundlage und von bedarfsabhängig gezahltem Sozialgeld könne man auch nicht leben. Besonders müsse außerdem für alleinerziehende Eltern sichergestellt werden den Beruf mit der Erziehung vereinbaren zu können.

Die Zahlen und Kritik Hilgers stoßen auf der anderen Seite auf Empörung. Ein Sprecher der Bundesagentur meinte, daß er sich das Zustandekommen der Daten nicht erklären könne, da die BA gar keine offizielle Statistik über die Zahlen der Kinder in Bedarfsgemeinschaften führe. Schon allein wegen der 69 Kommunen in Deutschland, welche die alleinigen Träger der Grundsicherungen seien, sei so etwas nicht möglich. Und auch vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales kommt Kritik. "Das ist infantil und absurd", sagte Peter Ziegler, ein Sprecher des Ministeriums. "Der Kinderschutzbund sollte wissen, daß die Zahl der Leistungsbezieher durch die Hartz-Reform zum ersten Mal vollständig erfaßt worden ist." Gerade Kinder aus Familien die frühere Sozialhilfeempfänger gewesen seien, ginge es nun besser. Zum ersten Mal hätten diese Kinder einen Regelanspruch auf Sozialgeld in Höhe von 209 Euro monatlich.

Hilgers wies die Vorstellung zurück, daß von 209 Euro monatlich etwas für Anschaffungen zurückgelegt werden könne. Nur wer noch nie in diesem Milieu gewesen sei, könne glauben, arme Familien würden einen Teil der Gelder für spätere Anschaffungen sparen. "Kinder sollten unabhängig von der Erwerbsbiografie der Eltern eine eigene Zukunft haben".

Doch diese Betrachtungen streifen nur die Problematik:
Tatsächlich ist die zum 1.1. 2005 eingeführte Kindergrundsicherung ist eine reale Kürzung auf den Stand der Sozialhilfe von 1994.

Bis zum 31.12.2004 bekamen Kinder, die auf Sozialhilfe angewiesen waren, einen monatlichen Regelsatz von 192 Euro. Zieht man aber von dem ab 2005 gültigen Betrag von 209 Euro die monatliche Ansparleistung in Höhe von 36 Euro ab, so verbleiben genau 173 Euro als monatliche Grundsicherung.

Rechnen wir weiter aus diesem Betrag die Mehrwertsteuererhöhung von 16 Prozent heraus, verbleiben 149 Euro. Das ist fast genau die Regelsatzleistung der Sozialhilfe von 1994. Dabei sind die Preissteigerungen seit 1994, zusätzliche Kosten im Gesundheitswesen u.v.a. noch gar nicht berücksichtigt.

2,5 Millionen Kinder wurden so von der soziokulturellen Teilhabe am Leben quasi abgekoppelt. Ein großer Teil der Deutschen wurde durch die undurchsichtigen Zahlenschiebereien - hier Absenkungen, dort Anstiege - getäuscht. Wurden auf der einen Seite "Leistungen" erhöht und hatten die Menschen so mehr Geld in der einen Tasche, wurde dies den meisten zuvor aus der anderen Tasche gezogen.

Ich danke fürs Zuhören.

 

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