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Festrede
Amish D. Leßmann
Liebe Freiburgerinnen und Freiburger,
Am Montag, den 23. August 2004 fand in Freiburg am Bertoldsbrunnen die erste Demonstration gegen ein Gesetz statt, das die Politikerinnen und Politiker der damaligen sog. "rot-grünen" Bundesregierung den Medien gegenüber "Hartz IV" nannten. Die juristisch korrekte Bezeichnung dieses Gesetzes lautet: "Zweites Buch Sozialgesetzbuch", abgekürzt "SGB II". Mit dem Inkrafttreten des SGB II am 1. Januar 2005 wurden Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammengelegt. Auf den ersten Blick mag das vielleicht sinnvoll erscheinen, denn viele Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosenhilfe waren auf ergänzende Sozialhilfe oder Wohngeld angewiesen. Doch schauen wir uns das mal genauer an: Die sogenannten "Hartz-Gesetze" sollten die Arbeitsämter und den Umgang mit Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern reformieren. Sie wurden von einer Gruppe von Leuten unter Vorsitz des damaligen Personalvorstand des Volkswagen-Konzerns Peter Hartz erarbeitet. Peter Hartz wurde inzwischen dafür verurteilt, daß er Betriebsräte, die der Gewerkschaft IG Metall angehörten, unter anderem mit Puffbesuchen bestochen hat. Die Gesetze Hartz I bis Hartz IV tragen also den Namen eines vorbestraften Kriminellen! Die Einschätzung, was davon zu halten ist, das Schreiben von Gesetzen an Straftäter zu delegieren, überlasse ich Euch, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Aber was dabei herauskommt, wenn ein Personalchef jene Gesetze entwirft, in denen steht, was mit den Leuten passieren soll, die er und seinesgleichen auf die Straße gesetzt haben und aus deren Reihen sich die Personalchefs bei Bedarf nach Gutdünken bedienen wollen, liegt auf der Hand: Lohndumping durch der Zwang, jede noch so schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen und jede Menge anderer Schikanen. Einige der im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland niedergeschriebenen Grundrechte bleiben dabei auf der Strecke. Ich greife mal zwei Beispiele raus:
Artikel 12 des Grundgesetzes lautet
Keiner der jeweiligen Ausnahmefälle rechtfertigt es, hilfebedürftige Arbeitslose zu zwingen, sich auf eine bestimmte Arbeitsstelle zu bewerben oder gar einen sog. "Ein-Euro-Job" anzunehmen. Denn unter Regelung der Berufsausübung ist zu verstehen, daß wer einen bestimmten Beruf ausüben will gewisse Voraussetzungen erfüllen muß. Mit "einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht" sind Wehr- Zivildienst gemeint - wobei diese Pflicht allerdings nicht wirklich "für alle gleich" ist, sondern nur für Männer. Und daß Arbeitslose keine Strafgefangenen sind - darüber braucht man eigentlich kein Wort zu verlieren. Zweites Beispiel: Wer das sog. "Arbeitslosengeld II" gezahlt bekommen möchte, muß eine sog. "Eingliederungsvereinbarung" abschließen. Darin stehen auf jeden Fall folgende Passagen - und zwar auch bei jenen Anspruchsberechtigten, die von ihrer Erwerbsarbeit nicht leben können: XY "verpflichtet sich, einen Aufenthalt außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereiches vorher mit dem persönlichen Ansprechpartner abzustimmen" (...) "insbesondere: Verpflichtung, die Ortsabwesenheit nur mit vorheriger Zustimmung der Kundentheke oder des pers. Ansprechpartners der ARGE Freiburg in Anspruch zu nehmen. Die Ortsabwesenheit beträgt 21 Kalendertage im Kalenderjahr. Diese Verpflichtung erstreckt sich auf die gesamte Bedarfsgemeinschaft. Die Rückmeldung aus der Ortsabwesenheit hat persönlich an dem auf das Ende der Ortsabwesenheit folgenden Werktag an der Kundentheke in der Arbeitsgemeinschaft Freiburg zu erfolgen." [Zitatende] Was bedeutet das konkret? Die Regelung gilt nicht nur werktags, sondern auch an Sonn- und Feiertagen - und zwar immer dann, wenn ich außerhalb der Grenze der kreisfreien Stadt Freiburg übernachte. Wenn ich am Freitagabend zu einer bundesweiten Demo nach Berlin fahre und am Sonntag um fünf Uhr früh wieder zurück bin, dann sind das drei Kalendertage - mit Kulanz zwei. Wenn ich über Weihnachten meine Mutter besuche, werden auch die Weihnachtstage mitgezählt. Wenn ich jemanden in Merzhausen näher kennen würde und dort von Samstag auf Sonntag übernachtete, wären das zwei Kalendertage Ortsabwesenheit - obwohl ich nur ein paar hundert Meter entfernt wohne. Ach herrje, da fällt mir ein, daß die Silvesterparty, auf der ich den Jahreswechsel gefeiert habe, in Merzhausen war. Auch wenn der Saal keine fünfzig Meter von der Kreisgrenze entfernt war und ich in wenigen Minuten zu Fuß nach Hause gegangen bin, habe ich mich doch um Mitternacht ein paar Schritte außerhalb Freiburgs aufgehalten. Es hätte ja sein können, daß mitten in der Neujahrsnacht jemand von der ARGE versucht hätte, bei mir anzurufen um mir mitzuteilen, daß ich am Neujahrstag um fünf Uhr früh aushilfsweise bei der Stadtreinigung antanzen müßte um nach dem Feuerwerk die Innenstadt wieder blitzblank zu putzen!
Aber wie ist das mit unserem Grundgesetz vereinbar?
Ziemlich sperrig und schwer zu verstehen. Wie das mit der nicht
ausreichenden Lebensgrundlage gemeint ist, das ist die Frage. Ob diese
Formulierung es erlauben würde, Einwohnerinnen und Einwohner der 1990
beigetretenen Bundesländer zu zwingen, wegen der dort besonders hohen
Arbeitslosigkeit in den goldenen Westen rüberzumachen? Doch die Väter
des Grundgesetzes haben anno 1949 wohl eher an die vielen
Kriegsflüchtlinge und Vertriebenen gedacht: Wenn diese Menschen
beispielsweise unbedingt alle nach Freiburg hätten kommen wollen, wäre
das einer Katastrophe gleichgekommen, und Freiburg wäre heute eine
Millionenstadt, die den gesamten Breisgau ausfüllte.
Klarer Fall: Hartz IV und insbesondere dessen Anwendung in der Praxis sind von vorne bis hinten verfassungswidrig! Deshalb war und ist es notwendig, daß wir immer wieder und wieder Montag für Montag auf die Straße gehen um gegen dieses unsoziale, die Menschenwürde verletzende und die angeblichen Fundamente unseres sog. "Rechtsstaats" mit Füßen tretende Gesetz zu protestieren. Damals am 23. August 2004 hatten wir noch die Hoffnung, daß vielleicht bald Millionen Menschen in ganz Deutschland auf die Straße gehen würden und den Politikern und Politikerinnen in Berlin dämmern würde, daß sie das mit uns nicht machen könnten. Aber nach den ersten mäßig großen Montagsdemos flaute die Beteiligung langsam ab. Ich gebe es zu, daß ich irgendwann ebenfalls wegblieb, weil ich das Gefühl hatte, mich lächerlich zu machen, mit einem kleinen Grüppchen Unentwegter über die KaJo zu latschen und den hunderten von Passanten zuzurufen: "Wir sind das Volk!" Doch als ich merkte, daß ich eben doch kein "Hartz-IV-Gewinner" war, sondern es auch für mich anfing, hart zu werden, kam ich wieder - und stieß auf einen stark geschrumpften harten Kern von vielleicht noch sieben Leuten, die trotz allem durchgehalten hatten. Ursprünglich war ich für jene Normal- und Gutverdiener auf die Straße gegangen, die falls sie ihren Job verlören bald auch ihr Auto verkaufen müßten - obwohl ich Autos hasse! -, sich eine kleinere und billigere Wohnung suchen und vielleicht sogar als Ingenieure Kloputzen gehen müßten. Es ging mir anfangs nur ums Prinzip. Doch dann merkte ich eines Tages, daß mir selber der Kittel brannte - und kehrte in meiner Verzweiflung und ohnmächtigen Wut hierher zurück. Und dann setzte langsam aber deutlich die Trendwende ein: Seit längerem beteiligen sich meist etwa 15 bis 30 Leute an jeder Montagsdemo hier in Freiburg. Und auch in vielen anderen Städten überall in Deutschland sind auch jetzt, in diesem Moment, viele Menschen auf der Straße und demonstrieren mit uns zusammen. Wie viele, das kann ich nicht sagen. Ich habe leider keine Zahlen - doch ein paar tausend werden es wohl sein. Aber es geht bei der Montagsdemo längst nicht mehr nur um die Abschaffung von "Hartz IV". Denn der Sozialabbau in diesem Land und die Unterwerfung aller Menschen unter die faktische Diktatur der Großkonzerne und Milliardäre schreitet in vielerlei Gestalt immer weiter fort. Wer noch an das Märchen vom Sozialstaat, der Demokratie und den selbstregulierenden Kräften des Marktes glaubt, dem ist nicht mehr zu helfen - außer, in dem man ihm die Augen öffnet. Und genau das machen wir hier. Die in den Parlamenten vertretenen Partein in diesem Staat unterscheiden sich eigentlich nur noch in ihren Sonntagsreden und Wahlversprechen voneinander. An der Regierung machen sie dann doch alle fast das gleiche. Von ein paar Nuancen abgesehen vielleicht: Union und FDP würden wahrscheinlich den Bau neuer Atomkraftwerke durchzusetzen versuchen, was mit SPD und Pseudo-Grünen bislang nicht zu machen scheint. Und die Mehrheit aus SPD, Pseudo-Grünen und der sog. Linkspartei haben in Hessen mit der Abschaffung der Studiengebühren immerhin eines ihrer Wahlversprechen eingelöst. Aber das war's dann auch schon. Solange wir hier stehen, sind wir der Kristallisationskeim, an dem sich alle Menschen, die nach und nach aufwachen, sammeln können. So wie bei einem Regentropfen: Es genügt ein winziges Staubpartikelchen, damit das Wasser an ihm kondensiert, und aus vielen winzigen Tröpfchen wird ein großer Regentropfen. Ich weiß nicht wie lange es noch dauert, aber eines Tages wird vielleicht doch noch ein Platzregen auf die Politiker, Konzernbosse und Großkapitalisten niedergehen und sie wegschwemmen. Und dann? Darüber müssen wir noch diskutieren und uns Gedanken machen. Wie eine gerechte und wirklich demokratische Gesellschaft aussehen könnte, da mögen unsere Vorstellungen vielleicht ein klein wenig auseinandergehen, aber in der Ablehnung der herrschenden Politik der sozialen Kälte sind wir uns alle einig. Wir haben hier ein offenes Mikrofon an dem jeder und jede seine bzw. ihre Meinung sagen kann. Wir demonstrieren hier nicht nur gegen Hartz IV, sondern gegen jeglichen Sozialabbau und jegliche Entrechtung von Werktätigen und Arbeitslosen, von Kindern und Rentnern, von Flüchtlingen und Kranken. Jeden Montag haben wir hier ein Schwerpunktthema, das im Zusammenhang mit Sozialabbau steht: Lohndumping, Managergehälter, Rentenklau, Kinderarmut, Frauendiskriminierung, den durch Bürgerentscheid verhinderten Verkauf der Stadtbau und der städtischen Wohnungen, die sog. "Gesundheitsreform", Lehrstellenmangel, Aufrüstung, Flüchtlinge, Bahnprivatisierung oder Milchlieferstreik - um nur ein paar wenige aus all den Jahren zu nennen. Was das alles mit Hartz IV zu tun hat? Wer die Reden dazu gehört hat, der weiß es. Denn letztlich hängt das alles miteinander zusammen. Das ganze hat System, und dieses System hat einen Namen: Es heißt KAPITALISMUS! Die sog. "soziale Marktwirtschaft" war in dieser Form eine Fiktion, die gerade mal ein halbes Jahrhundert gehalten hat. Dem wird seit einigen Jahren der sog. "Heuschreckenkapitalismus" oder "Turbo-Kapitalismus" entgegengesetzt. Doch diese Wortschöpfungen sind pure Augenwischerei: Es handelt sich einfach nur um konsequent praktizierten Kapitalismus.
Kapitalismus bedeutet Zinseszinswirtschaft und Profitmaximierung. Es
gibt keinen "guten" und "bösen" Kapitalismus. Denn Kapitalismus bedeutet
nichts anderes, als daß sich die Produktionsmittelbesitzer und
Geldanleger an der Arbeitskraft der Werktätigen bereichern.
Die zwingende Konsequenz daraus ist hier auf der Montagsdemo immer
wieder ausgesprochen worden, und wir können es nicht oft genug sagen:
Und jetzt alle zusammen:
Okay, aber ich bin noch nicht ganz fertig. Ich soll hier ja eine Festrede halten. Wir feiern hier und heute die 200. Montagsdemo in Freiburg! Zum 200. Male erheben wir hier gemeinsam und unüberhörbar unsere Stimme und sagen: Wir lassen uns das nicht gefallen! Zum 200. Male in fast lückenloser Folge habe wir uns hier versammelt und üben gemeinsam unser grundgesetzlich verbrieftes Recht auf freie Meinungsäußerung aus. Egal ob es regnet oder ob die Sonne scheint, egal ob wir bei klirrender Kälte frieren oder in brütender Hitze schwitzen. Sogar an Feiertagen waren immer ein paar wenige da - nur ein einziges Mal fiel die Montagsdemo aus, weil einer den Zug verpaßt hatte und zwei andere sich verfehlten. Das war im vergangenen Jahr am Heiligabend. Ja, liebe Freundinnen und Freunde - denn das sind wir inzwischen längst geworden: Wir können stolz darauf sein, daß wir immer noch jeden Montag hier stehen und nicht aufgegeben haben. Und ich bin sicher, wir werden in knapp zwei Jahren auch die 300. Montagsdemo feiern. Wenn sich nicht gravierend etwas zum Besseren ändert in diesem Staate, dann wird es auch die 400., die 500. und wenn es sein muß eines Tages auch die 1000. Montagsdemo geben! Aber: Haben wir wirklich Grund zu feiern? Was haben wir erreicht? Ich fühle mich ohnmächtig in diesem Staat, in dem Vertreter der Großkonzerne die Gesetze machen - auch als ausgeliehene Mitarbeiter in den Ministerien - und deren Entwürfe von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat nur noch durchgewunken werden. Die ganzen Debatten und Interviews, das ist doch nur noch ein Kasperltheater, was die uns vorspielen, damit wir nicht merken, wer WIRKLICH in diesem Land regiert. Wir haben also nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir geben auf und gehen jeder für sich im stillen Kämmerlein einer nach dem anderen still und leise zugrunde wie die meisten Menschen in Deutschland. Oder wir machen genau das, was wir seit fast vier Jahren hier tun, nämlich uns jeden Montag hier zu versammeln und knallhart unsere Meinung kundzutun. Und zwar so lange, bis endlich die Mehrheit in diesem Lande aufgewacht ist und wir alle zusammen die korrupten und verlogenen Politiker ebenso wie die uns ausbeutenden nichtsnutzigen Superreichen und Wirtschaftsbosse mit einem Generalstreik zum Teufel gejagt haben! Bis dahin schleudern wir denen frech und mutig entgegen: Ihr kriegt uns hier nicht weg! Wir geben niemals auf! NIEMALS!!!
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