MONTAGS-DEMO FREIBURG
Redebeitrag vom 21.07.08

Sozialabbau und Studiengebühren

Manche Leute machen es sich einfach und sagen: Studiengebühren betreffen doch eh nur noch die Kinder reicher Eltern, denn Kinder aus den Unterschichten befinden sich heute ja gar nicht mehr an den Universitäten und Fachhochschulen. Cum grano salis ist die Feststellung, auf der diese Schlußfolgerung beruht, durchaus richtig:

Tatsächlich ist der Anteil von Arbeiterkindern unter den StudentInnen auf mittlerweile rund 10 Prozent abgesunken. Und das merken selbst schon die Kleinsten. Laut einer im Oktober 2007 veröffentlichten Studie passen bereits Kinder ihre Erwartungen der Realität einer zunehmenden gesellschaftlichen Chancen-Ungleichheit an. So können sich nur rund 20 Prozent der Kinder aus "sozial schwachen Schichten" vorstellen, einmal Abitur zu machen. Unter den Kindern "aus gut situierten Schichten" glauben dies mehr als 80 Prozent.

Jahr für Jahr ist es in den offiziellen Statistiken nachzulesen, daß beispielsweise der Anteil der StudentInnen aus einkommensschwachen Familien drastisch schrumpft: Waren es zu Beginn der 80er Jahre noch 23 Prozent, sank ihr Anteil bis Mitte der 90er Jahre bereits auf 14 Prozent. Heute kommen nur noch rund 10 Prozent der StudentInnen aus Unterschichten-Familien.

Aus dem Viertel der Bevölkerung mit dem geringsten Verdienst kamen 1994 nur noch 18 Prozent aller Studien-AnfängerInnen. Aus dem Viertel der Familien mit dem höchsten Netto-Einkommen kamen 55 Prozent aller Erstsemester. Noch deutlicher wird das Bild, wenn sozialversicherungsrechtliche Kategorien zugrunde gelegt werden: Von 100 Arbeiterkindern haben 1993 in den alten Bundesländern nur 15 ein Hochschulstudium aufgenommen, während es im Vergleich dazu 65 von 100 Beamtenkindern waren.

Wer also meint, Studiengebühren träfen heute weit überwiegend schon die Richtigen, verrät damit eine statische Betrachtungsweise. Dabei wird nur der gegenwärtige Stand der Dinge betrachtet. Und das ist keine politische Betrachtungsweise, denn diese muß immer die zeitliche Entwicklung berücksichtigen. Nur eine solche, eine dynamische Betrachtungsweise ist politisch.

Eine dynamische Betrachtungsweise überblickt zugleich zwei Zeitperspektiven: Die Entwicklung der Vergangenheit und mögliche Entwicklungen der Zukunft.

Bei einer Analyse der bisherigen Entwicklung wird klar, daß jede weitere Erschwerung der Studienbedingungen zugleich eine Barriere darstellt, die vor dem Zugang zu Universitäten und Fachhochschulen aufgerichtet wird. Sie betrifft daher nicht nur diejenigen, die bereits einen Studienplatz ergattert haben, sondern demotiviert gleichzeitig alle, die aus Unterschichten-Familien stammen, deren Bildungs-Chancen gerade in Deutschland besonders gering sind, aber die dennoch kein geringeres Recht auf die Entfaltung ihres geistigen Potentials haben als irgendwelche Beamtenkinder, die nur mit wöchentlich fünf Nachhilfestunden das Abitur mit Ach und Krach gerade eben schafften.

Und wenn wir uns eine Perspektive für die Zukunft nicht völlig verbauen lassen wollen, wenn wir also eine Trendwende durchsetzen wollen, wenn wir wollen, daß in Zukunft nicht noch weniger, sondern im Gegenteil ein höherer Anteil von Kindern aus der Unterschicht ihre Bildungs-Chance erhält, dürfen Studiengebühren nicht einfach hingenommen werden.

Und auch auf den gegenwärtigen Stand ist ein schärferer Blick nötig. Denn nicht alle Kinder aus einem wohlhabenden Elternhaus sind damit glücklich, finanziell von ihren Eltern abhängig zu sein. Jede finanzielle Abhängigkeit fördert die Anpassung. Und dies ist durchaus eines der gesellschaftlichen Ziele, die mit der Einführung der Studiengebühren verfolgt werden.

Dazu ist aber ein Blick hinter die Oberfläche der Zustände nötig. Denn mit der statistischen Aussage, daß heute rund 10 Prozent der StudentInnen aus Unterschichten-Familien stammen und rund 90 Prozent aus Mittelschichten- und Oberschicht-Familien, ist über jene 90 Prozent noch nichts ausgesagt.

Im Durchschnitt verfügen StudentInnen monatlich 770 Euro. Aber die Bandbreite ist groß: 20 Prozent der StudentInnen müssen mit weniger als 585 Euro pro Monat auskommen - mit weniger als dem BAFöG-Höchstsatz. Immerhin ein Drittel der StudentInnen verfügt über weniger als 640 Euro und damit über weniger als von Familiengerichte als Orientierungswert für den Unterhalt durch die Eltern festgelegt wurde. Auf der anderen Seite sehen 60 Prozent der StudentInnen ihre Studiumsfinanzierung als "gesichert" an. Lediglich 25 Prozent der StudentInnen verfügt über mehr als 900 Euro monatlich.

Dies bedeutet zweierlei: Zum einen ist ein Großteil der StudentInnen keineswegs finanziell so üppig ausgestattet wie es die Schichtzugehörigkeit ihres Elternhauses vielleicht erwarten ließe. Sie werden - aus welchen Gründen auch immer - relativ kurz gehalten. Zum anderen legen diese Zahlen die Vermutung nahe, daß ein nicht unerheblicher Teil die mit der finanziellen Abhängigkeit verbundene Gängelung ablehnt und sich mit HiWi-Jobs und Halbtagsstellen durchschlägt.

Wie können Studiengebühren abgeschafft werden?

Viele Hoffnungen richten sich zur Zeit auf Hessen. Die Linkspartei behauptet, das hessische Beispiel zeige, daß Studiengebühren auf parlamentarischem Weg abgeschafft werden könnten. So klar und eindeutig sind die Fakten jedoch keineswegs. In Hessen hat es Andrea Ypsilanti noch nicht geschafft, eine "rot-rot-grüne" Landesregierung auf die Beine zu stellen. Welche Stimmenverteilung bei der - sicherlich nicht allzu fernen - kommenden hessischen Landtagswahl herauskommt, ist noch nicht entschieden. Wenn die drei Parteien hinter Ypsilati weiter derart dilettantisch agieren wie bisher, ist eher zu erwarten, daß der "schwarze" Roland Koch erneut die Mehrheit erhält. Und solange Frau Ypsilanti beim Thema Hatz IV eine Position des sowohl als auch vertritt, ist ein Debakel wie es die sogenannte Regenbogen-Allianz in Italien erlebte, in Hessen nicht auszuschließen.

Die Situation in Hessen ist nicht anders als ein verlängerter Wahlkampf zu werten. Daß in Hessen mit einer "rot-rot-grünen" Mehrheit im Landtag die Studiengebühren abgeschafft wurden, ist also nicht mehr als ein Wahlkampfversprechen. Und daß solche Versprechen auch bei der Linkspartei als von der politischen Praxis nicht gedeckte Wechsel angesehen werden müssen, zeigt die "rot-rote" Regierung unter Wowereit in Berlin und zeigte die "rot-rote" Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern.

Einen richtigen Ansatz verfolgt zur Zeit der Freiburger U-Asta, der einen zweiten Anlauf mit einem Boykott der Studiengebühren nehmen will. Diesen StudentInnen gilt unsere Solidarität. Es ist ihnen zu wünschen, daß auch die Solidarität unter den StudentInnen selbst wieder wächst. Denn das ist die wichtigste Grundlage, um die Studiengebühren weg zu bekommen. Wir müssen uns alle darüber klar sein, die Gegenseite ruht nicht: Pläne für eine weitere Erschwerung der Studienbedingungen liegen mit Sicherheit bereits in der Schublade.

 

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