MONTAGS-DEMO FREIBURG
Redebeitrag vom 8.10.07

Sozialabbau und ALG I

Zunächst einmal:
Worum geht es bei der aktuellen Debatte um das Arbeitslosengeld I
- kurz: ALG I?

Im Zuge der von "Rot-Grün" durchgesetzten "Arbeitsmarktreformen", der Agenda 2010, die mit den "Hartz-Gesetzen", Hartz I bis Hartz IV, exekutiert wurden, fand auch eine Enteignung statt. Die Dauer der Zahlung des ALG I wurde durch Hartz II verkürzt. Von bis zu 32 Monaten wurde es auf in der Regel 12 Monate gekürzt. Nur für über 55-jährige wird noch bis zu 18 Monate gezahlt. Dabei handelte es sich ganz klar um eine Enteignung, da es sich nicht um Zahlungen aus Steuereinnahmen handelt, sondern aus der Arbeitslosenversicherung, in die im guten Glauben eingezahlt wurde, daß dieses Geld auch im Falle der eigenen Arbeitslosigkeit im versprochenen Umfang zur Verfügung stünde.

Dabei handelt es sich allerdings nur um eine Nuance. Denn von wem wird das Kapital - aus dem auch alle Steuern bezahlt werden - erwirtschaftet? Nicht etwa von den Unternehmern - wie uns immer wieder einzureden versucht wird. Selbstverständlich arbeiten die - mehr oder weniger auch etwas. Aber Maschinen und Fabriken - auch die vielgerühmte Mutter Erde - erwirtschaften nichts. Es ist allein die Arbeitskraft der Menschen, die Werte schafft - und das Kapital ist lediglich ein Maß für diese Werte. Um sich dies klar zu machen genügt ein einfaches Gedanken-Experiment: Was würde geschehen, wenn niemand arbeitet? Würden uns die Trauben in den Mund wachsen oder die sich selbst backenden Brötchen zufliegen? Die Maschinen stünden still und die Fließband-Roboter in den Autofabriken würden bestenfalls für wenige Stunden Karossen auf Halden häufen. Es ist also klar: Auch das, was den kleinen Leuten durch Hartz IV, die anderen Bestandteile der Agenda 2010, durch die Gesundheitsreform und durch die Mehrwertsteuer-Erhöhung weggenommen wurde, ist Enteignung, ist Diebstahl.

Selbstverständlich beruht der Kapitalismus auf Diebstahl. Doch seit Bismarcks Zeiten konnte nach und nach das Rad des Fortschritts ein wenig weitergedreht werden und - im 19. Jahrhundert noch eine real existierende Arbeiterklasse - konnte sich einen Teil des Diebesguts erkämpfen. Stichworte: Sozialgesetzgebung, Sozialstaat. Selbstverständlich wurden die Anfänge der Sozialgesetzgebung gegen den "Eisernen Kanzler" erkämpft und verdankten sich nicht dessen Gnade - wie uns heute gerne erzählt wird.

Doch seit Mitte der 80er Jahr wird versucht, das Rad zurückzudrehen. Zunächst hier in Deutschland vom damaligen Arbeitsminister Blüm noch ganz sachte. Dann unter "Rot-Grün" dann immer frecher. Und dies lag nicht etwa daran, daß das Sowjet-Imperium zusammenbrach wie uns manche Ost-NostalgikerInnen glauben machen wollen, sondern weil durch die Zunehmende Rationanalisierung immer weniger Arbeitskräfte benötigt wurden. Da die verbleibene Arbeit nicht auf viele Schultern verteilt wurde und immer weniger Menschen im "Besitz eines Arbeitsplatzes" verblieben - Dank auch einer falschen Politik der Gewerkschaften - wurde die Kraft, die das Rad des Fortschritts bewegt, immer mehr geschwächt.

Das zeigt sich ganz deutlich in den geschrumpften Mitgliedszahlen der Gewerkschaften. Daß eine kleine Gewerkschaft wie die GDL - die Gewerkschaft der Lokführer - an so mächtigen Hebeln sitzt, daß sie wie ein David dem Goliath trotzen kann, ist nun mal leider eine ganz rare Ausnahme. Und daß da noch ein so kleiner David die Auseinandersetzung wagt und dabei die Arroganz der Mächtigen herausfordern, macht ja nicht zuletzt den Charme der GDL aus, ist ja gerade der Grund für den großen Rückhalt des Lokführerstreiks in der Bevölkerung - aber eben auch gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden eigenen - subjektiv wahrgenommenen - Hilflosigkeit.

Nun kommen da so einige Journalisten, die sich für ganz Schlaue halten - wie beispielsweise Thomas Fricker von der BZ - und argumentieren damit, unser Argument, bei der Kürzung des ALG I und dem Griff in die Kasse der Sozialversicherung handele es sich um Diebstahl, sei falsch.

Fricker will uns belehren, eine Sozialversicherung funktioniere nicht wie eine Kapitalversicherung. Schließlich kassieren bei einer Kapitalversicherung diejenigen am meisten, die auch zuvor die höchsten Beiträge bezahlt haben. Und auch vor der Agenda 2010 war es so, daß alle, die nie arbeitslos wurden, auch nie in den Genuß von Arbeitslosengeld kamen. Doch der Vergleich hinkt. Wer das Solidar-Prinzip der Krankenversicherung begriffen hat, ist schließlich auch nicht dann unglücklich, wenn sie oder er am Ende des Arbeitslebens zurückblicken. können und sagen können: Zum Glück war ich nie krank.

Fricker weicht in seiner Argumentation denn auch schnell auf ein anderes Thema aus: Auf den Umstand, daß Unternehmen mit Vorruhestandsregelungen und auch mit Frühverrentung auf Kosten der Sozialkassen ihre Belegschaft "sozialverträglich" schrumpften. Bei dieser Betrachtungsweise wird allerdings wiederum als selbstverständlich vorausgesetzt, daß bei zunehmender Rationalisierung und weiterem Fortschreiten der Produktivität die Zahl der Beschäftigten sinken müsse. Das wird uns seit Jahrzehnten als eine Art Naturgesetzlichkeit verkauft.

Zugleich ist es dann aber plötzlich gar kein Naturgesetz, daß das Heer der Arbeitslosen wächst und wächst. Es ist ein Leckerbissen, sich mal die Schlagzeilen der BZ der letzten zehn Jahr auzuschauen - wie oft hieß es da, die Zahl der Arbeitslosen schrumpft! Und dennoch steigt sie Jahr um Jahr. Auch jetzt wollen uns superschlaue JournalistInnen wieder weismachen - endlich, endlich! - und Dank der Agenda 2010 wäre der Aufschwung da und die Arbeitslosenzahlen begännen zu sinken. Aber wenn wir sie in drei Monaten erneut an diese Schlagzeilen erinnern, werden sie nicht etwa beschämt den Kopf senken, sondern uns erneut mit frechen Lügen belästigen.

Einen darunter, Ronny Gert Bürckholdt - so etwa die neoliberale Speerspitz der BZ - erklärt nun beispielsweise, ausgerechnet: Mit einer teilweisen Rücknahme der Agenda 2010 würde das Rad zurückgedreht. Bürckholdt hat dabei ganz offensichtlich den modischen Sprachgebrauch, wonach Reformen mit einem Abbau sozialer Standards gleichzusetzen seien, absolut verinnertlicht. Was einmal als "Rad des Fortschritts" galt, dreht sich aus seiner verqueren Sichtweise genau dann vorwärts, wenn es rückwärts geht.

Völlig unverfroren argumentiert Bürckholdt damit, daß die verkürzte Bezugsdauer des ALG I dazu geführt habe, daß sich die Betroffenen frühzeitig und stärker darum bemühen müssen, wieder eine Stelle zu bekommen. Daß der Druck erhöht wird, ist also ganz offenbar allein schon ein positives Kriterium. Ob dabei - wie sonst gerne als argumentative Arabeske angehängt wird - die Konjunktur angeheizt oder die Arbeitslosigkeit reduziert würde, spielt für Bürckholdt überhaupt keine Rolle mehr...

Typisch ist bei Bürckholdts Argumentationsweise auch, daß der Begriff "demographischer Faktor" nebenbei erwähnt wird, ohne überhaupt auszuführen, was dieser im Zusammenhang mit ALG I überhaupt zu suchen hätte. Ebenfalls völlig zusammenhangslos streut Bürckholdt das Wort vom "Job-Boom" ein, ganz so als handele es sich dabei um eine unbestreitbare Realität.

Als völlig selbstverständlich sieht es Bürckholdt an, daß die Ansprüche von BewerberInnen wegen der "Hartz-Reformen" gesunken seien und daher nun Jobs besetzt werden können, die sonst offen geblieben wären. Wozu dann eine Ausbildung oder gar ein Universitäts-Studium gut sein sollten, müßte uns Herr Bürckholdt allerdings doch einmal erklären...

Kabarett-reif wird BZ-Schreiberling Ronny Gert Bürckholdt, wenn er uns erklärt, woher die Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland herrührt: "Vor 1985 zum Beispiel wurde das Arbeitslosengeld für alle Menschen nur zwölf Monate gezahlt. Erst als man es länger zahlte, ist das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland überhaupt auf das heutige Niveau gestiegen." Wer jetzt lacht und meint, so etwas könne auch nur Bürkholdt einfallen, liegt allerdings falsch! Bürckholdt zitiert selbst nur - und zwar Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft. Lachen ist aber trotzdem erlaubt.

Was spielt sich nun innerhalb der SPD ab? Warum versucht ausgerechnet der gegenwärtige SPD-Voritzende Kurt Beck, der uns "ungewaschen und unrasiert" schon eine Lektion erteilt hat, eine teilweise Rücknahme der Agenda 2010 zu unterstützen?

Daß er sich mit seinem Kurzzeitvorgänger als SPD-Vorsitzendem, Franz Müntefering auf der politischen Bühne nur Scheingefechte liefert, um das Publikum auf sich aufmerksam zu machen, ist langjährigen Beobachtern des Polit-Theaters längst klar. Selbstverständlich ist es auch, daß - bei der Rollenverteilung hier: Müntefering als Vizekanzler und exekutierender Politiker - dort Beck als ausschließlich programmatisches Sprachrohr des angeblich roten Teils der "schwarz-roten" Koalition - die Aussagen Becks zum Thema ALG I keinerlei reale Wirkung haben werden? Wozu also das Ganze?

Heribert Prantl schrieb gerade in der Süddeutschen Zeitung über die SPD ganz treffend: "Die Agenda 2010 liegt auf ihr wie eine Grabplatte." Die Prozentzahlen für die SPD bei der Sonntagsfrage rutschen immer weiter ab. Die Mehrheit in Deutschland erkennt die Agenda 2010 immer klarer als puren Sozialabbau. Das ist nicht zuletzt an den populistischen Ergüssen, die auf Deutschlands meistverkauftem Toilettenpapier zu finden sind, erkennbar. Das Blatt mit den vier Buchstaben ist schließlich immer noch so etwas wie der Seismograph der deutschen politischen Landschaft. Es geht der SPD also einzig und allein darum, sich ein bißchen mehr links zu positionieren. Also wie gehabt: Links blinken, um ungestört rechts abbiegen zu können. Doch je deutlicher die Folgen der Agenda 2010 erkennbar werden: Massiver Sozialabbau - ohne daß auch nur ein Fünkchen der versprochenen Wirkungen - also gesteigertes Wirtschaftswachstum und Abbau der Arbeitslosigkeit zu erkennen wären, desto stärker werden es diese "Roten" als nötig erachten, sich von der Agend 2010 abzusetzen. Ganz klar spielen auch die bevorstehenden Landtagswahlen eine Rolle für die kosmetischen Operationen der SPD. Selbst Schröders Liebling, die streng neoliberal ausgerichtete SPD-Landes-Chefin Ute Vogt, hat sich nun an Beck angehängt. Sie redet allerdings davon, die Agenda 2010 weiterzuentwickeln, statt sie abzumildern. So oder so - real haben wir da davon nichts Positives zu erwarten.

In der Bevölkerung ist der Vorschlag zur Verlängerung des Arbeitslosengeldes populär: 82 Prozent der Deutschen sind dem neuen ZDF-Politbarometer zufolge dafür, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für Arbeitslose über 45 Jahre zu verlängern. Wir kommen allerdings nicht hier seit über drei Jahren zur Montags-Demo, um uns mit kleinen Korrekturen abfinden zu lassen. Wir stehen hier nach wie vor für die Rücknahme der Agenda 2010 und dafür, daß das Rad des Fortschritts endlich wieder in die richtige Richtung weitergedreht wird!

 

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