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Sozialabbau und Pflegenotstand
Vielfach wird heute in Mainstream-Medien über den Pflegenotstand berichtet.
In der Sachbuch-Bestsellerliste des 'spiegel' fand sich lange Zeit ein Buch, das in
Wallraff-Manier die inhumanen Zustände in Pflege- und Altersheimen aufdeckt: Bettlägrige
alte Menschen, die wund liegen, weil nicht genügend Personal zur Verfügung steht, die
nicht mehr mit dem Löffel gefüttert werden, sondern eine Magensonde gelegt bekommen...
Was jedoch kaum beleuchtet wird, ist der Zusammenhang zwischen diesen Zuständen und
dem Sozialabbau in Deutschland. Während die Kosten des Gesundheitssystems allein wegen
steigender Arzneimittellosten zugunsten der Pharma-Konzerne steigen, wird an allen Ecken
und Enden "gespart".
von Oliver Tolmein (Rechtsanwalt und Journalist / Hamburg) Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung Ich möchte den Vortrag beginnen mit einem kurzen Ausflug nach Süden. Dort hat gerade der Deutsche Juristentag stattgefunden. Insgesamt zum dritten Mal hat sich dieser Juristentag des Themas Sterbehilfe angenommen und zum zweiten Mal in seiner strafrechtlichen Abteilung. Der Deutsche Juristentag ist deshalb eine interessante Vereinigung, weil dort Juristen aller Professionen organisiert sind, etwa 8.000 an der Zahl. Dort sind Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Juristen, die Ministerialbeamte sind. Es ist eine vergleichsweise einflussreiche Veranstaltung. Man erkennt es auch daran, dass der Präsident, diesmal der Verfassungsrichter und zeitweise CDU-Ministerkandidat Kirchhof dort war, und dass mehrere BGH-Richter in den Reihen der Referenten auch in der strafrechtlichen Abteilung vertreten waren. 1986 hat sich die strafrechtliche Abteilung das erste Mal mit dem Thema Sterbehilfe befasst. Damals war die Diskussion über Sterbehilfe in der Bundesrepublik ganz am Anfang. Es war eigentlich noch gar kein richtiges Thema. Erste spektakuläre Aktionen gab es damals. Der alternative Krebsmediziner Julius Hackethal hatte mehrere seiner Patienten zu Tode gebracht durch ärztlich unterstützten Suizid. Sie waren seiner Meinung nach auch dadurch geschädigt, dass sie grässlich aussahen, weil sie Gesichts- Mundkrebs und ähnliches hatten. Hackethal war zusammen mit dem damaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben Gast und Redner auf dem Juristentag. 20 Jahre später hat dort der Rechtsanwalt Wolfgang Putz als Diskutant seine Stimme erhoben. Wolfgang Putz ist zwar kein Strafrechtler, aber er konnte stolz in der Präsentation seiner Kanzlei verkünden, dass er schon in über 100 Fällen von Wachkoma den tödlichen Ernährungs- und Behandlungsabbruch habe durchsetzen können. Ich habe Herrn Putz persönlich auf einer Anhörung der Grünen zum Thema Sterbehilfe kennen gelernt. Nachdem er dort viel über Autonomie und Selbstbestimmungsrechte geredet hat, wurde er von einem Grünen Abgeordneten gefragt, wie es denn so stünde mit denen, die nicht selbst entscheiden können, mit behinderten Neugeborenen vor allem. Der Kollege Putz war der Meinung, das sei gar kein Problem mehr. Es gäbe seit 1986 die so genannten Einbecker Empfehlungen, die geltendes Recht wären. Bei schweren Behinderungen von Neugeborenen - damals wurden die Glasknochen-Krankheit, Spina bifida und ähnlich schwere Behinderungen genannt - soll man demnach Neugeborene nicht behandeln müssen, also liegen lassen können. Die Einbecker Empfehlungen zogen viel Kritik auf sich und wurden in einer zweiten Fassung entschärft - aber die Väter dieser Richtlinien, für deren Erarbeitung ausdrücklich keine Betroffenen (Behinderte oder Eltern schwerbehinderter Kinder) hinzugezogen wurden, haben sie eben auch nicht zurückgezogen. Rechtspolitik heute Nun ist es nicht so, dass der Kollege Putz, dem diese Geschichte im Detail vielleicht auch gar nicht bekannt ist, Recht schafft und Recht macht, aber er gestaltet es mit. Es ist symptomatisch, dass sich der Juristentag vor allem mit Referenten ausgestattet hat, die diese oder ähnliche Positionen vertreten. Dem entsprechen auch die Beschlüsse. 1986 wurde angekündigt, man werde das Recht auf Sterbehilfe in Deutschland jenseits des Gesetzgebers verändern können, nämlich durch Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. Das vertrat damals der Vizepräsident des BGH, Franz Karl Salger. Er betonte, man bräuchte nur die entsprechenden Fälle. Im Jahr 2006 ist der Juristentag bestrebt nun doch die Gesetze zu ändern, weil - so die interessante Logik - nicht ausreichend Fälle zur Verfügung standen. Nun könnte man sich ja denken, keine Fälle, kein gesetzlicher Bedarf. Es gibt offensichtlich gar nichts, was gesetzlich geändert werden muss, weil hier nichts angeklagt wird und gerade im Strafrecht in diesem Bereich wenig im Argen liegt. Das sah der Deutsche Juristentag aber ganz eindeutig anders. Der Gutachter, der in diesem Jahr die Vorschläge unterbreitete war Prof. Thorsten Verell, Ordinarius an der Universität Bonn und einer der Autoren des Alternativentwurfes für ein Gesetz zur Sterbebegleitung, mit dem schon vor einem Jahr entsprechende Vorschläge unterbreitet wurden. Nach diesem Entwurf und nach dem Willen des Deutschen Juristentages soll künftig ein ärztlich assistierter Suizid möglich sein und irgendwo im Strafgesetzbuch geregelt werden. Es soll auch einen Paragrafen geben, der die so genannte Leidminderung zulässt. Das betrifft jene Praxis, die gegenwärtig in der Diskussion als "indirekte Sterbehilfe" bezeichnet wird, als eine Schmerzmedikation, bei der die Tötung des Patienten nicht beabsichtigt, aber möglicherweise unvermeidlich Nebenfolge ist. Es soll die bindende Wirkung von Patientenverfügungen festgeschrieben werden. Das ist besonders kurios, denn Patientenverfügungen gehören in den zivilrechtlichen Bereich. Im Strafgesetzbuch wird möglicherweise so etwas festgelegt, für das es eine zivilrechtliche Regelung noch gar nicht gibt. Aber auch die Zivilrechtler sollen nun entsprechende Beschlüsse fassen. Behandlungsbegrenzung soll möglich werden, und von vornherein soll der Tatbestand einer Tötung durch Unterlassen im Fall einer vorliegenden Patientenverfügung ausgeschlossen sein. Im Gutachten des Deutschen Juristentages wird diese Behandlungsbegrenzung vorgeschlagen, wenn beispielsweise aufgrund einer Patientenverfügung oder eines irgendwie ermittelten mutmaßlichen Willens man davon ausgehen kann, dass diese Menschen nicht mehr weiter lebenserhaltend behandelt werden wollen. Im Gutachten des Professor Verell wird aber auch eine Behandlungsbegrenzung, ein Abbruch lebenserhaltender Behandlung oder eine erst gar nicht aufgenommene lebenserhaltende Behandlung vorgeschlagen, wenn es keinen ermittelten oder mutmaßlichen Willen des Patienten gibt. Aufgrund "objektiver Faktoren" kann eine Behandlung ärztlich nicht mehr indiziert sein, in "Todesnähe". Aus juristischer Sicht handelt es sich hier um unbestimmte Rechtsbegriffe. Was "Todesnähe" genau ist, weiß, wenn es kritisch wird, so recht kein Mensch. Es gibt einen anderen Streit um die Frage, was ist eigentlich eine irreversible tödlich verlaufende Krankheit. Juristen gehen heute davon aus, dass auch das Wachkoma - selbst wenn es zehn Jahre dauern kann - bereits eine irreversible tödlich verlaufende Erkrankung ist. Unter diesen Vorzeichen wird der Begriff der "Todesnähe" sicher nicht ganz eng ausgelegt werden. Wann aus ärztlicher Sicht eine mögliche Behandlung nicht mehr indiziert ist, ist zumindest unter Ärzten relativ umstritten. Das hängt möglicherweise sehr davon ab, an welchen Arzt man im Krankenhaus gerät, wie die Fallpauschalen dort ausgehandelt sind und wie es um die Budgets gerade steht. Nicht in den nächsten zwei oder drei Jahren, aber in den nächsten zehn Jahren wird sich einiges an Kritik und der Angst vor Neuem abgeschliffen haben und der Behandlungsabbruch auch bei Fällen, in denen gut weiterbehandelt werden könnte, Routine werden können. Wandlungsfähige Rechtsprechung Die Auseinandersetzung um Patientenverfügung und Sterbehilfe wird unter dem Stichwort "Zugewinn an Autonomie und Selbstbestimmung" geführt. Doch der erwähnte Vorschlag hat schon gar nicht mehr den Anspruch, Selbstbestimmungsrechte zu wahren, sondern besagt schon programmatisch: Es gibt auch objektive Kriterien, die dazu führen sollen, dass eine Behandlung nicht mehr weitergeführt werden kann, soll und auch muss oder möglicherweise darf. Die Patientengruppe, bei der das sicherlich eine gewisse Relevanz entfalten wird, dürfte die Gruppe der Wachkoma-Patienten sein. Sollte der Vorschlag des Deutschen Juristentages tatsächlich Gesetz werden, dann wird die Entwicklung ähnlich verlaufen wie in den Niederlanden, mindestens im Bezug auf die Gruppe der Wachkoma-Patienten. Diese Patienten, die länger als ein Jahr leben, gibt es in den Niederlanden nahezu nicht mehr. Diesen Änderungsvorschlägen geht eine zwanzigjährige Geschichte der Rechtsprechung voraus, die schon vieles in die Wege geleitet hat. Diese Entwicklung möchte ich kurz skizzieren im Blick auf die Frage: Wofür brauchen wir, oder wofür brauchen die Initiatoren solcher Entwürfe eigentlich diese Gesetze? Es gibt drei Leitentscheidungen der Strafsenate des BGH. Wir bewegen uns ja hier im Strafrecht, also dem Rechtsgebiet, das den Lebensschutz garantieren soll von Menschen, allen Menschen in diesem Land. Der Kemptener Fall 1994 ist vom Bundesgerichtshof der Kemptener Fall entschieden worden. Hier ging es um das Leben einer Frau, von der behauptet wurde, dass sie sich im Wachkoma befände. Da dies das Thema meiner Doktorarbeit war, habe ich mich intensiv mit den Krankenakten befasst. Tatsächlich hat niemand jemals festgestellt - und einiges spricht dagegen - ob die Frau im Wachkoma lag. Sie hatte einen Herzstillstand und war wiederbelebt worden - übrigens vier Monate nachdem sie ins Altersheim übersiedeln musste. Sie litt an einer beginnenden Alzheimer Demenz. Nach der relativ spät erfolgten Wiederbelebung hatte sie schwere Hirnschäden. Aber auch die sind nie genau diagnostiziert worden. Eine Frührehabilitation oder ähnliches ist bei dieser Frau, die immerhin gerade mal 72 Jahre alt war, überhaupt nie in Erwägung gezogen worden. Die Frau ist also medizinisch richtig schlecht behandelt worden. Man hätte das Krankenhaus wegen Behandlungsmängel arztrechtlich verklagen können, statt zu erwägen, bei ihr die künstliche Ernährung abzubrechen. Man hätte möglicherweise auch den Betreuer zur Verantwortung ziehen können. In diesem Fall war das ihr Sohn, der nicht gemacht hat, wozu er verpflichtet gewesen wäre: dafür zu sorgen, dass die Frau ordentlich medizinisch behandelt und ihre Behinderung dadurch abgemildert wird. Stattdessen wurde der Abbruch künstlicher Ernährung angestrebt. Warum wurde die Frau künstlich ernährt? Im Urteil des Bundesgerichtshofs heißt es, weil sie nicht mehr schlucken konnte. Bemerkenswerterweise bekam sie Medikamente aber durchaus oral. Sie konnte also schlucken. Sie wurde nicht mehr mit dem Löffel ernährt, weil der Pflegeaufwand zu hoch war, um das ganz nüchtern zu sagen. Die ärztliche Behandlung, die Magensonde, die man dann anschließend abbrechen konnte, war eigentlich schon Ausdruck schlechter Pflege. Der "normale" Gang bei ihr wäre gewesen: Herzstillstand, Wiederbelebung, Frührehabilitation, gute Pflege mit weiterer Ernährung über den Löffel. Die Frau hätte wahrscheinlich noch einige Jahre leben können und es wäre niemand auf die Idee gekommen, ihre Fütterung abzubrechen, weil sie das mutmaßlich nicht mehr will. Stattdessen wird die technologische Lösung gesucht, die Sondennahrung. Sondennahrung ist eine ärztliche Behandlung und die kann man abbrechen. 1994 wehrte sich das Heim dagegen und es wurde auch zugestanden, dass das Abbrechen künstlicher Ernährung in diesem Fall keine Lösung ist. Die Frau wurde also weiterhin künstlich ernährt. Die Angeklagten hatten sich wegen des Versuches einer Tötung durch Unterlassen zu verantworten - das würde heute so gar nicht mehr angeklagt werden. Damals waren die Verhältnisse noch andere. Das Landgericht Kempten hatte gesagt: Das war eine versuchte Tötung durch Unterlassen, die nicht so schlimm sei, weil die Frau ja sehr alt und auch sonst nicht mehr gut beieinander war. Aber immerhin, eine kleine Geldbuße wie bei einer mittleren Verkehrsgeschwindigkeitsübertretung sollte es doch noch sein. Daraufhin ging der Fall zum Bundesgerichtshof, der schon einige Jahre zuvor nach geeigneten Fällen suchte, um die Rechtsprechung zu ändern. Das war ein geeigneter Fall. Er hat die Rechtsprechung geändert. Die Richter stellten fest, dass die Frau nicht im Sterben lag, es also eigentlich kein wirklicher Fall für Sterbehilfe war. Aber sie schufen eine neue Kategorie, neben der Sterbehilfe als Hilfe im Sterben, die Sterbehilfe als Hilfe zum Sterben. Irgendwann wird der Tod eintreten. Das schafft einen auslegbaren Raum für Rechtsfortbildung. Bei der Frau in Kempten stand der Tod nicht unmittelbar bevor. Es wurde Hilfe zum Sterben als erlaubt angenommen - und zwar hier liegt die zweite Innovation der Entscheidung - wenn es eine mutmaßliche Einwilligung der Patientin in ihren Tod gibt. Das Landgericht Kempten bestätigte später diesen mutmaßlichen Willen. Die Frau hätte anlässlich von Fernsehsendungen gesagt, so wolle sie nicht sterben. Der Film ging zwar nicht um Menschen mit Hirnschädigung im Altersheim, sondern um eine Krebspatientin auf einer Intensivstation. Das Landgericht fand all das vergleichbar: Sehr viel Medizin, sehr viel künstliche Ernährung, Apparate. In Folge dieses Kemptener Falles haben viele Betreuungsgerichte in Deutschland Anträge auf Abbruch der künstlichen Ernährung bewilligt. Die Rechtsprechung prägt also die Wirklichkeit in diesem Bereich. Zwei weitere Etappen Der zweite Fall kam zwei Jahre später und ist eigentlich noch bemerkenswerter. Beim so genannten Dolatin Fall ging es um eine alte, einsame Frau, die ziemlich wohlhabend und mit einem Arztehepaar befreundet war. Das Ehepaar hatte erhebliche Geldprobleme. Als es der Frau irgendwann sehr schlecht ging, bot das Arztehepaar an, sie doch bei sich aufzunehmen, sich um sie zu kümmern, sie zu versorgen. Als sie dann einen Darmverschluss hatte, überlegte das Ehepaar: Wenn sie jetzt stirbt, könnten wir auch noch das Testament ein wenig verändern. Mit einem befreundeten Notar ist das zu machen. Wenn sie möglicherweise noch Jahre überlebt, sind Haus und Praxis gefährdet. Also entschieden sie, nicht die gebotene Einweisung in die Notarztpraxis und ins Krankenhaus zu machen, sondern lieber mit Hilfe des Notars das Testament zu fälschen, sich zum Alleinerben einzusetzen. Der Zustand der Frau wurde in der Nacht immer schlechter. Die Ärztin, eine Anästhesistin legte einen Tropf mit Schmerzmitteln an. Die Frau starb. Das Ehepaar ging mit dem gefälschten Testament zum Testamentsvollstrecker und riss sich das Vermögen der Frau unter den Nagel. Nur weil ein Adoptivsohn der Verstorbenen misstrauisch geworden war, kam die Geschichte vor die Justiz. Es gab eine ziemlich hohe Verurteilung, wegen Urkundenfälschung, Betrug und Tötung. Der Anwalt des Ehepaares ging vor dem BGH in Revision. Der BGH nahm die Revision bezüglich des Tötungsdeliktes an und trennte die anderen Verfahrensanteile ab. Das Tötungsdelikt war für den BGH ein guter Anlass, sich an diesem exemplarischen Fall Gedanken darüber zu machen, wie es zu bewerten ist, wenn ein Arzt Schmerzmittel einsetzt und voraussieht, dass die Patientin sterben wird und er diesen Todeseintritt möglicherweise beschleunigt. Die juristischen Zeitungen haben den kurz angedeuteten Kontext überhaupt nicht veröffentlicht. Auch das Urteil des Landgerichtes Kiel ist nie publiziert worden. Man kann das nur lesen, wenn man sich das Urteil in Gänze besorgt. Dort wurde festgestellt: Es ist nicht strafbar, Schmerzmittel so hoch zu dosieren, dass die Schmerzen bekämpft werden - auch wenn man damit die Tötung in Kauf nimmt. Der dritte Fall ereignete sich vor drei Jahren. Ein Schweizer Exit-Mitglied, ein Pastor im Ruhestand, begab sich nach Deutschland, um dort eine Internistin mit einem, aus der Schweiz mitgebrachten Päckchen Natrium Pentobarbital Sterbehilfe zu leisten. Der Pastor gab ihr das Präparat und sie durfte sich damit umbringen. Sie hatte eine Krebserkrankung und wollte nicht mehr leben. Dieser Sterbehelfer wurde verurteilt. Das Urteil u.a. wegen Tötung fiel gering aus. Es wurde vom Bundesgerichtshof aufgehoben. Übrig blieb ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, weil Natrium Pentobarbital in die Betäubungsmittelverordnungm fällt, also verschreibungspflichtig ist und nicht eingeführt werden darf. Es wurde eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen. Das heißt: Es wurde gesagt, das war böse und wenn du das noch mal machst, könnte es passieren, dass wir dich vielleicht wirklich bestrafen. Damit war der Bereich des begleiteten Suizids mit Hilfe von Betäubungsmitteln relativ straffrei gestellt. Verschwiegene Perspektiven und ungenannte Probleme Wenn man sich diese drei Entscheidungen anschaut, stellt man fest: Was der Deutsche Juristentag als Gesetz formuliert wissen will, das ist bereits gängige Rechtsprechung. Entweder hat es der Juristentag gerne, wenn Gesetze geschrieben werden. Das ist aber üblicherweise nicht der Fall. Juristen leben sehr gut damit, wenn sich die Rechtsprechung ändert. Das ist nämlich wesentlich flexibler. Einen gesetzlich neuen Stand zu schaffen ist nur sinnvoll, wenn man weitere Handlungsoptionen anvisiert. Ich denke, das wird sich in den genauen Formulierungen solcher Gesetze niederschlagen und diesen Weg dürfte der Deutsche Juristentag einschlagen wollen. Wenn man den ärztlich assistierten Suizid, der ohnehin hierzulande als Beihilfe zur Tötung weitgehend legal ist, als Gesetz formulieren möchte, dann gibt es viele Formulierungen, die wenig trennscharf sind gegenüber einer verbotenen Tötung auf Verlagen. Die Gefahr ist relativ groß, dass mit dieser Gesetzesänderung, die als Klarstellung und Zugewinn an Autonomie in der Öffentlichkeit verkauft wird, ein Schritt in diese bedenkliche Richtung getan wird. Gesetze werden nicht immer in der gleichen Form beschlossen, wie der Juristentag das vorsieht. Aber er gibt sicher einen wichtigen Impuls. Frau Justizministerin Zypries hat angekündigt, dass sie ein Sterbebegleitungsgesetz will. Strafrechtliche Änderungen findet sie nicht sinnvoll und wichtig. Die Forderung nach strafrechtlichen Änderungen könnte eine gute Gelegenheit für sie sein, um zu sagen: So radikal wollen wir nicht sein. Wir wollen ein Patientenverfügungsgesetz und das ist dann geradezu eine moderate Lösung - unabhängig davon, was genau in diesem Gesetz stehen wird. Bemerkenswert ist, was beim Deutschen Juristentag keine Rolle gespielt hat und bisher noch nie eine Rolle gespielt hat. Die strafrechtliche Abteilung des Deutschen Juristentages hat sich intensiv mit dem Thema befasst. Die zivilrechtliche Abteilung ebenfalls, schon im Jahr 2002 unter dem Stichwort Autonomie. Die Abteilung öffentliches Recht hat noch keine Anstalten gemacht, sich überhaupt einmal mit dem Thema zu beschäftigen. Sie wäre dafür zuständig, sich mit den sozialrechtlichen Begleitumständen der Sterbehilfe, der Situation von Sterbenden in diesem Land zu befassen. Stichworte sind hier: Pflegeversicherung, Palliativversorgung, Gesundheitswesen. Die Defizite, beispielsweise die Kostenübernahme von Schmerzmitteln, die nicht zugelassen sind, das gilt für alle cannabishaltigen Präparate, wurden bislang dort noch gar nicht angesprochen. Gleiches gilt für die Frage der Ausbildung in der Pflege, oder von Ärzten und natürlich auch von Juristen, die als Vormundschaftsrichter sehr einflussreich sind. Die palliative Infrastruktur insbesondere im ambulanten Bereich ist ebenfalls eine Freistelle. Das ist nicht passiert, sicher weil dieser sozialrechtliche Bereich unter dem Aspekt einer Ausweitung von Leistungen diskutiert wird. Ob das wirklich mehr kosten wird, sei dahin gestellt. Im Augenblick ist es in der gesundheitspolitischen Diskussion nicht opportun über die Ausweitung von Leistungen zu sprechen. Auch in Kreisen der Juristen, die in diesem Bereich eher neoliberal orientiert sind, ist das nicht opportun. Im Gutachten zum Deutschen Juristentag ist in erster Linie von einer Freiheit im so genannten status negativus die Rede. Es geht nicht um das, was Menschen verlangen können oder haben wollen, sondern was sie abwehren können. Das entspricht dem klassischen Denken im Strafrecht, das so aufgebaut und strukturiert ist: Man hat hier den schwachen Angeklagten, der Rechte braucht, um sich gegen den starken, strafenden Staat zur Wehr zu setzen. Im Bereich der ganzen Sterbehilfediskussion ist diese Konstellation ganz selten gegeben. Deswegen ist dort ein Blick, der in erster Linie sich auch auf die Täter und deren Handeln orientiert und versucht hier Liberalisierungen zu erreichen, von der ganzen Struktur der Problemlage her eigentlich ganz unangebracht. Hier zeigt sich einmal mehr, dass das Strafrecht die falsche Regelungsmaterie ist. Aber die Akzentsetzung im juristischen Bereich folgt dieser Logik und strahlt in die Gesellschaft aus. Denn diskutiert wird über die neuen Gesetze und Entwürfe, nicht diskutiert wird über die tatsächlichen Defizite, die es in diesem Bereich der Sterbebegleitung tatsächlich gibt. Die Probleme liegen hier weniger bei den Strafeingriffen, den individuellen Freiheitsrechten der Betroffenen, sondern bei den Leistungsrechten und der Infrastruktur, die dort bereit gehalten wird. Der Fokus auf dem strafrechtlichen Bereich begünstigt auch, dass viel auf abstrakte Rechtsfragen reduziert wird und die tatsächlichen Verhältnisse, die diesen gerade geschilderten Fällen zugrund liegen, werden überhaupt nicht thematisiert: Dass die Frau in Kempten schlucken konnte und nicht künstlich hätte ernährt werden müssen; dass die andere Patientin tatsächlich ausgenutzt wurde und im Wesentlichen Opfer eines Testamentsbetruges war, all das spielt keine Rolle. Ich möchte deshalb eine Passage aus meinem Buch "Keiner stirbt für sich allein" vorlesen, um die tatsächlichen Bedingungen anzusprechen. Sie befasst sich mit der Situation eines Menschen im Hospiz, den ich dort kennen gelernt habe. Martin will nicht sterben (S. 84 - 89) Martin will nicht sterben. Martin hat Pläne. Er richtet sich in seinem Bett auf und dreht mir den schmalen, knochigen Kopf mit den so charakteristisch scharf geschnittenen Zügen zu, die das Gesicht vieler an Aids erkrankter Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit prägen. »Ich suche mir eine Wohnung in der Nähe von Hamburg. Dann habe ich es näher zur Arbeit, wenn ich wieder anfangen kann". Martin ist Versicherungskaufmann. Lange hat er in Süddeutschland Policen für Haus und Hof verkauft, später saß er in einem Großraumbüro im Rheinland. Dann brach er zusammen, war wochenlang krank, wollte nicht glauben, was er befürchtete, und ging schließlich, als er gar nicht mehr konnte, doch in die Klinik. Dort diagnostizierten die Ärzte bei ihm HIV. Die Krankheit war schon ausgebrochen, es war nur noch wenig zu machen. Martin war physisch am Ende und bekam Depressionen. Er war allein, lag im Krankenhaus, verzweifelte. Schließlich hat die Familie ihn zu sich geholt, nach Norddeutschland. »Ich hätte mich sonst kaum um ihn kümmern können«, wirft jetzt die Mutter ein, die mit einer Decke auf den Knien am Bett sitzt und ihren Sohn unauffällig, aber genau beobachtet. Tag für Tag kommt sie aus Pinneberg nach Sankt Pauli. Setzt sich zu ihrem Sohn ins Zimmer. Redet mit ihm, liest bei ihm, nimmt Wäsche mit nach Hause, bringt sie wieder. Während ich mich mit Martin unterhalte, zieht sie manchmal eine Augenbraue hoch, oder sie lächelt wehmütig, aber nur ein wenig, denn sie hat es sich verboten, jetzt schon zu traurig zu sein. Noch lebt ihr Sohn, noch kann sie ihm helfen, kann mit ihm reden, ein paar Schritte mit ihm über den Flur gehen, sie kann etwas für ihn tun. Als Martin von seinem Vorhaben erzählt, wieder zu arbeiten, »anfangs auf Vierhundert-Euro-Basis, später dann auch wieder mehr«, wendet sie sich ab. Sie würde so gern hoffen, dass diese Pläne, die angesichts des ausgemergelten Mannes im Bett geradezu verwegen wirken, Realität werden können, aber sie selbst glaubt nicht mehr daran. Auch als Martin erzählt, dass er bald ins Elternhaus zurückziehen, sein Jugendzimmer ausbauen und vielleicht eine behindertengerechte Dusche im Erdgeschoss einbauen möchte, klingen die Worte, mit denen seine Mutter das Vorhaben begrüßt und unterstützt, eher so, als müsse sie sich selbst einreden, dass es so weit noch einmal kommen kann. Der Ausgangspunkt für Martins Überlegungen, die so weltfremd klingen, ist aber auf erschreckende Weise real. Er findet sich in einem dicken Aktenordner abgeheftet. »BoK Schwarzwald-Weilersbrunn« steht auf dem Briefkopf des Schreibens. Die Krankenkasse ist der Kostenträger, der den Aufenthalt im »Hamburg Leuchtfeuer Hospiz« Sankt Pauli bezahlt. Noch bezahlt, denn Martin lebt mittlerweile seit elf Monaten und zwei Tagen in der Einrichtung. Länger als zwölf Monate zahlen die Krankenkassen aber fast nie - und deswegen muss Martin sich für die nahe Zukunft eine neue Bleibe suchen, wo er seine Marilyn-Monroe-Plakate aufhängen und die wenigen Möbel, die er aus seiner letzten eigenen Wohnung mitgebracht hat, aufstellen kann. Der Brief der Krankenversicherung, der vor ein paar Tagen gekommen ist, ist ein Blatt mehr in der langen Serie von Schreiben und Bescheiden, die mittlerweile zwei dicke Ordner bei Martin füllen - Martin, der sonst nie Akten mit persönlichen Unterlagen gesammelt und geführt hat. Aber seit der Diagnose ist alles anders, und auch wenn seitdem der Blick auf Sterben und Tod gerichtet ist, ist doch die Beschäftigung mit dem Leben und dessen Organisation aufwendiger und weniger selbstverständlich geworden. Statt auf die Bürokratie zu pfeifen, ihr den Rücken zuzukehren und sich angesichts des nahenden Endes nicht mehr um Finanzen und Formalien zu scheren, erscheint es für Martin gerade jetzt besonders wichtig, bloß nichts falsch zu machen. Er ist verletzlicher, angreifbarer. Und er hat nicht mehr viel Zeit und wenig Kraft, Fehler zu korrigieren, ob es sich um die Fehler anderer handelt oder um seine eigenen, bleibt sich dabei im Ergebnis gleich. Für die Mitarbeiter des Hospizes ist Martins Fall paradox. »Als er hier ankam, sah er furchtbar aus. Er hatte ganz schlechte Werte, wir waren alle davon überzeugt, dass er sehr bald sterben würde« Aber das Leben im Hospiz tat Martin gut. Hier war er nicht mehr isoliert, hier wurde er mit Engagement versorgt, fühlte sich aufgenommen und das ermöglichte es ihm, neue Kräfte zu sammeln. »Jetzt sieht es so aus, als sei er bei uns falsch gewesen, weil er ja nach fast einem Jahr immer noch lebt. Dabei war er hier genau richtig.« Die Sozialarbeiterin, die mit Martin schon viele Gespräche geführt hat und die ihn vor allem im Umgang mit der Krankenkasse und den Behörden unterstützt, will auch versuchen zu erreichen, dass Martin eine weitere Verlängerung bekommt. Das bedeutet, Anträge zu schreiben und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen darzulegen, dass die, wie es im Krankenkassendeutsch etwas steif heißt, »Hospizpflegebedürftigkeit« immer noch gegeben ist. Vier Wochen Hospizpflege werden routinemäßig übernommen , wenn die Frau oder der Mann nicht gerade in einem Altenheim leben: Dann erkennen die Krankenkassen einen Pflegebedarf im Hospiz gar nicht an. In der Regel bewilligen die Kostenträger auch einen Hospizaufenthalt bis zu drei Monaten ohne größere Nachfragen. Lebt der Patient länger als erwartet, können jedoch Schwierigkeiten auftreten. Die Grenze, die kaum je überschritten wird, liegt bei einem Jahr. Auch für ein Hospiz ist es nicht einfach, einem Kranken für länger als ein Jahr ein Zimmer zu geben. Allerdings geht es »Hamburg Leuchtfeuer« nicht um die Kosten. Angesichts der knappen Plätze und der Warteliste, die die in den neunziger Jahren gegründete Einrichtung hat, stellt sich immer wieder die Frage, wer den Platz in einem der elf Apartments am nötigsten braucht. »Das ist für uns aber sehr schwer zu entscheiden«, erläutert die Geschäftsführerin Petra Fischbach. Jedenfalls kann es nicht einfach der Reihe nachgehen. »Wir bemühen uns abzuwägen, wer den Platz am dringlichsten braucht. Dabei spielt eine Rolle, wo sich derjenige im Moment aufhält, ob es eine Familie gibt, die sich auch kümmern kann, oder ob jemand ganz allein lebt. Auch die möglichen anderen Lösungen bedenken wir.« Aber auch wenn die Plätze oft knapp sind, gilt der Grundsatz: Wer da ist, soll auch nicht zur Unzeit gehen müssen. Das Hospiz ist ja gerade kein Krankenhaus, in dem Belegungszeiten erstellt und Liegedauern errechnet werden müssen. Im Hospiz hat Zeit einen anderen Stellenwert. Hier treten Rituale an die Stelle der Sachzwänge - Lebensrituale und Sterberituale. Martin ist in einer paradoxen Situation: Weil er, um es zugespitzt zu formulieren, nicht schnell genug gestorben ist, muss er das Hospiz, das ihm gut tut, verlassen. Aber möglicherweise würde er nach einer Verlegung in eine fremde Umgebung, in der er sich nicht so geborgen fühlt, zum Beispiel in ein Altenheim, wo wahrscheinlich aufgrund der ganz anderen Kosten- und Personalstruktur auch Pflege und Betreuung weniger intensiv ausfallen würden , recht schnell sterben. Es fehlt, so analysiert die Hospizmitarbeiterin die gegenwärtige Versorgungslage, an Zwischenlösungen, an Möglichkeiten für schwerkranke Menschen, die eine Lebensperspektive von wenigen Monaten oder auch von ein bis zwei Jahren haben, diese Zeit in einer Umgebung erleben zu können, in der sie selbständig bleiben und doch viel Unterstützung erhalten - und das gilt sogar für eine Großstadt mit einer ansonsten vergleichsweise guten Versorgungsstruktur wie Hamburg. Die Situation in kleineren Städten oder gar auf dem Land ist noch ungleich schwieriger. Dabei stellt sie, da die Wege hier weiter sind und die qualifizierten Ärzte und Pflegedienste noch weitaus rarer, viel höhere Anforderungen an die Betroffenen. Das »Hamburg Leuchtfeuer Hospiz« hat einen Kooperationsvertrag mit dem Hamburger Matthias-Stift geschlossen über ein Belegungsrecht für siebzehn Wohnungen, die »Leuchtfeuer« nutzen kann; für jemanden, der so schwer krank ist wie Martin, ist das aber keine Alternative, weil die pflegerische Versorgung in diesem Wohnprojekt für Pflegebedürftige nicht intensiv genug ist. Jetzt steht die Krankengymnastin im Zimmer, Martin hat heute Behandlung. Das Programm ist nicht festgelegt, die Therapeutin geht auf die Tagesform der Patienten ein. Manchmal sitzt sie einfach nur da und hört sich deren Geschichten an. Bei Martin geht es heute darum, den durch das viele und lange Liegen strapazierten Rücken zu entlasten. Auf dem Flur wird gerade geputzt. Es ist einer der wenigen Momente, in denen auch das Hospiz wirkt wie ein Krankenhaus: Wagen mit Reinigungsmitteln werden über den Flur geschoben, der feuchte Wischmob erobert die Ecken, die »Putzkolonne« beherrscht die Szene, aber der flüchtige Eindruck täuscht: Sauber gemacht wird hier nicht von einer Fremdfirma, sondern von den Mitarbeitern oder von ehrenamtlichen Betreuern. Auch die Pfleger, die morgens zu dritt sind, absolvieren gerade ihr Pensum. Sie gehen konzentriert und bestimmt vor, lassen sich Zeit, sind aber nicht nachlässig - die Pflege im »Leuchtfeuer« ist aufwendig. Viele Bewohner, wie die Menschen, die hier leben, vorzugsweise genannt werden, weil sie sich nicht wie im Krankenhaus als Patienten fühlen sollen, haben Wunden, die versorgt werden müssen, sie können nur noch schlecht gehen und sind nicht sehr beweglich. Die Pfleger müssen sie stützen und waschen, anziehen und ihnen beim Essen helfen. Aus dem Zimmer neben dem Martins dringt leises Wimmern. Iris Berg leidet Qualen. Sie hat in der Nacht stundenlang erbrochen. Jetzt ist sie hin- und hergerissen zwischen ihrem elenden Gesundheitszustand und der Sorge, die anderen mit ihrer Krankheit zu sehr zu belasten. Niemandem zur Last fallen zu wollen - das ist nicht nur in den Meinungsumfragen zur Sterbehilfe ein Motiv, das viele Menschen in Deutschland als Grund für ihren Wunsch angeben, einen schnellen Tod zu haben oder lebenserhaltende Behandlungen abbrechen oder gar nicht erst aufnehmen zu lassen. Längst haben auch viele Menschen, die Pflege und Versorgung brauchen, die Vorstellung verinnerlicht, dass sie ein knappes Gut in Anspruch nehmen und deswegen Zurückhaltung walten lassen sollten. Das Hospiz ist ein Gegenentwurf zu der Welt, die von solchen Vorstellungen und Wahrnehmungen geprägt ist: Hier sind die unterstützungsbedürftigen Menschen willkommen. Niemand stellt Anforderungen an sie, denen sie nicht gewachsen sind, niemand signalisiert ihnen, dass sie allenfalls geduldet sind, weil sie den Idealen der Leistungsgesellschaft, in der das Selbstbestimmungsrecht immer auch den Zwang zur Selbstanpassung und Optimierung der eigenen Möglichkeiten enthält, nicht mehr entsprechen. Hier werden sie und ihre Bedürfnisse ins Zentrum gerückt, statt dass eine Pflegedienst- oder Heimleitung sie in längst eingeübte Abläufe einzupassen versucht. Hospiz- und Medienwelten Das Problem vom Hamburger Hospiz Leuchtfeuer, aber auch von anderen Hospizen ist beispielsweise, dass die Bewohner schnell genug sterben müssen; dass sie 10% der Kosten, die sie verursachen, selber tragen müssen. Man stelle sich vor, dass Ärzte 10% der Kosten, die sie bei Patienten verursachen, prinzipiell selber zahlen müssen, oder die Asklepios Kliniken als gewinnorientierte Betriebe. Ein weiterer, wichtiger Aspekt in diesem ganzen Sektor ist die Spendenakquise. Im Bereich Hamburg kann man sagen, die Hospize sind bemüht, dass nicht noch neue Initiativen entstehen, die auch um Spendengelder konkurrieren müssen. Der Markt für Spenden ist ja begrenzt und überschaubar. Hier wird eine Ökonomisierung als eine Art von Selbstökonomisierung in Form von Fundraising durchgesetzt und institutionalisiert. Das ist ausgesprochen problematisch. Ich möchte zum Schluss einen Fall schildern, der es nicht in die Medien geschafft hat - außer in meinem Buch. Er betrifft einen meiner Mandanten. Ich bin also nicht ganz neutral, aber ich bin ja auch nicht eingeladen worden um neutral zu sein. Es geht um einen Mann, der an Amytrophe Lateralsklerose erkrankt ist. In den EU-Staaten ist diese Erkrankung über das Schicksal der Britin Diane Pretty bekannt geworden. Sie ist bis zum Europäischen Gerichtshof gezogen, um das Recht auf Beihilfe zu ihrem Selbstmord durch ihren Mann zu erstreiten. In England sind die juristischen Verhältnisse anders als hier, wo sie dieses Recht nicht hätte erstreiten müssen. An ihrem Schicksal und ihrer Situation haben sehr viele Menschen Anteil genommen. Die Reaktion in den Medien war überwiegend: Das kann man doch gut verstehen, dass sie mit dieser überaus schweren Krankheit nicht weiter leben möchte. Es wäre ein Akt der Humanität ihr dieses Recht auf Beihilfe zum Suizid zu gewähren. Mein Mandant hat es nicht in die Medien geschafft. Ich habe das versucht, nicht weil ich denke, dass es attraktiv und wichtig ist, solche Geschichten medial zu verbreiten, sondern weil ich gehofft habe, dass wenigstens das eine Chance ist, etwas für den Mandanten zu erreichen. Mein Mandant hat auch Amytrophe Lateralsklerose und die AOK hat ihm nach Diagnose der Erkrankung gesagt, wie schwerwiegend sie ist und dass er nicht zu Hause gepflegt werden könne und dringend in ein Heim müsse. Er hat das eingesehen und ist in ein Heim gezogen. Je schwerer die Krankheit wurde, je mehr musste er feststellen, dass es schlecht für ihn ist, dort zu sein. Denn auf seine Bedürfnisse nimmt dort kaum jemand Rücksicht. Er hatte mehrere Erstickungsanfälle. Auf seiner Etage sind ein bis zwei Pflegekräfte für rund zehn Pflegebedürftige zuständig. Die können nicht einfach plötzlich einen Pflegevorgang abbrechen, um dann zu ihm zu eilen und dafür zu sorgen, dass sein Beatmungsgerät richtig funktioniert. Es ist auch sehr schwierig, mit ihm zu kommunizieren, weil er nicht reden kann, denn er wird künstlich beatmet. Schreiben kann er auch nicht mehr. Er kann sich nur noch mit Augenblinkern verständigen. Das geht eigentlich sehr gut, aber es dauert seine Zeit, die auf so einer Pflegestation nicht vorhanden ist. Deswegen gibt es mittlerweile dort ein Set von sechs Tafeln, die sozusagen seinen Alltag nach Meinung des Pflegedienstes strukturieren sollen. Er hat also sechs Äußerungen zu Verfügung. Mehr ist nicht mehr vorgesehen. Der Mandant hat deswegen gesagt, er möchte das Heim verlassen. Nachvollziehbar, aber nach dem Sozialgesetzbuch mit gewissen Schwierigkeiten behaftet. Denn eine ambulante Pflege würde erheblich teuerer sein - und besser, denn dann wäre jemand rund um die Uhr für ihn da. Es gibt Menschen in seiner Lage, die ambulant gepflegt werden und nicht ins Heim gezwungen werden, weil dies noch als nicht zumutbar angesehen wird. Wenn aber jemand im Heim ist, dann raus zu kommen, nur weil das menschenwürdiger ist, das ist gar nicht so leicht. Das Sozialgericht in Hamburg hat im Eilverfahren gesagt, die Kosten sind zu hoch, es ist zumutbar, dort zu sein und er ist freiwillig ins Heim gegangen. Außerdem habe er kein Zuhause mehr, in das er gehen kann. Das Landessozialgericht hat das ähnlich gesehen und schließlich auch im Eilverfahren das Bundesverfassungsgericht. Es hat mich darauf hingewiesen, dass eine Grundrechtsverletzung nicht vorliege und wenn die ambulante Versorgung mit erheblichen Mehrkosten verbunden ist, müsse man den begrenzten finanziellen Ressourcen der Bundesrepublik Rechnung tragen. Das heißt: Mein Mandant lebt im Heim. Das Heim hat ihm aber wegen des Verfahrens gekündigt, weil es für ihn unzumutbar sei, hier zu leben. Der Träger wollte ihm einen anderen Heimplatz verschaffen, der wahrscheinlich pflegerisch gesehen noch schlechter gewesen wäre. Wir haben der Kündigung widersprochen. Das Heim, das ihm gekündigt hat, gehört zum Landesbetrieb Pflege in Hamburg. Es ist also eine öffentliche Einrichtung. Als sie gesehen haben, dass dem Mann nicht einfach gekündigt werden kann, haben sie einen anderen Weg eingeschlagen. Mein Mandant hat eine Bevollmächtigte, seine Tochter. Der Landesbetrieb Pflege wollte einen Berufsbetreuer einsetzen, der den Heimvertrag kündigen und eine Verlegung in eine andere Institution ermöglichen sollte. Auch das gelang nicht. Im letzten halben Jahr ist dieser Mensch, der durchaus andere Probleme hat, damit beschäftigt, Übergriffe von Betreuungsgerichten, des Landesbetriebes Pflege und anderer Institutionen abzuwehren. Vergessene Kontexte Was man daraus für die Sterbehilfe-Debatte lernen kann: Dieser Fall ist nicht attraktiv für die Medien und für die Öffentlichkeit. Eine Kollegin vom Spiegel sagte mir: Ja, warum will der denn nicht sterben. Das wäre eine so elende Situation, das könnte sie nicht nachvollziehen. Die Kollegen vom Hamburger Abendblatt sagten: Das ist sehr kompliziert und wenn die Gerichte doch auch gesagt haben, dass ambulante Pflege zu teuer ist, können wir das unseren Lesern nicht plausibel machen. Die Redaktion von Monitor hat festgestellt: Wir kriegen ja keine Drehgenehmigung im Heim und es sei ein sehr atypischer Fall, der wahrscheinlich keine allgemeine gesellschaftliche Relevanz habe. Die Geschichte ist mehr oder weniger ungeschrieben. Sie wird die öffentliche Sterbehilfe-Debatte nicht beeinflussen, denn der betroffene Mensch will nicht, was alle Welt von ihm erwartet: schnell sterben. Hätte ich einen Mandanten der sterben möchte, würden die Medien sofort eine herrliche Geschichte bringen: Ich kämpfe gegen das Heim, um mich nicht mehr künstlich ernähren lassen zu müssen. Die Sterbehilfe-Debatte ist verbunden mit vielen ausgeprägten Vorwahrnehmungen von dem was ist, was erträglich ist, was sein soll und was nicht sein kann. Die Freiheit und Autonomie, die hier gefordert wird, ist immer eine Freiheit und Autonomie des Verzichts, nie eine von Anspruchsleistungen. So wie die Debatte augenblicklich geführt wird, werden Lebenssituationen nicht mehr in einem sozialen Zusammenhang begriffen. Sie werden nicht eingeordnet in die Kontexte der gesundheitspolitischen und gesundheitsökonomischen Debatte, in die pflegepolitische Diskussion, in den Kontext einer Debatte über Antidiskriminierungs- und Gleichbehandlungsgesetze. Menschen die schwerste chronische - irgendwann zum Tode führende - Krankheiten haben, werden nicht als benachteiligte Menschen begriffen, sondern als Todeskandidaten. Das ist das einzige, was sie auszeichnet. Diese Dekontextualisierung, dieses Herausreißen des Sterbens aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen führt dann zur einzigen Frage: Wie kann man diese Menschen möglichst schnell und schmerzlos und ohne dass sie - aber auch die Gesellschaft - "leiden" müssen, in ihren Tod begleiten. Zurück zur Übersichtsseite 'Redebeiträge' Zurück zur HAUPTSEITE
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