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Die Gier zerfrisst den Herrschern ihre Gehirne
»Das Kapital hat die Bevölkerung agglomeriert, die
Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen
Händen konzentriert. Die Arbeiter, die sich stückweise
verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere
Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der
Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.«
146 Jahre später warten in Deutschland - als ob es nie eine Zivilisierung des Klassenkampfes gegeben hätte - Zehntausende von Arbeitern auf den nächsten Schlag aus den Konzernetagen von General Motors, Aventis, Volkswagen und Continental, der sie in die Arbeitslosigkeit und anschließend mit Hilfe der Politik auf die unterste Sprosse der sozialen Stufenleiter befördert. Nicht das Gespenst des Kommunismus, vielmehr die Angst geht um in Europa - gepaart mit Wut, Abscheu und tiefem Mißtrauen gegenüber den politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten, die ähnlich den Verantwortlichen in der Zeit des Übergangs vom Feudalismus in die Industriegesellschaft offensichtlich unfähig sind, die unausweichliche Globalisierung der Ökonomie human zu gestalten. Unter Berufung auf angebliche Gesetze des Marktes reden sie vielmehr einer anarchischen Wirtschaftsordnung, die über Leichen geht, das Wort. 100 Millionen von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen in Europa und den USA und 3 Milliarden Arme, die zusammen ein geringeres Einkommen haben als die 400 reichsten Familien der Erde, klagen an: die Adepten einer Shareholder-Value-Ökonomie, die keine Werte kennt jenseits von Angebot und Nachfrage, Spekulanten begünstigt und langfristige Investoren behindert. Sie klagen an: die Staatsmänner der westlichen Welt, die sich von den multinationalen Konzernen erpressen und gegeneinander ausspielen lassen. Sie klagen an: ein Meinungskartell von Ökonomieprofessoren und Publizisten, die meinen, die menschliche Gesellschaft müsse funktionieren wie DaimlerChrysler, und die sich beharrlich weigern, anzuerkennen, daß der Markt geordnet werden muß, auch global Regeln einzuhalten sind und Lohndumping die Qualität der Arbeit und der Produkte zerstört. Die Arbeiter in den Industriestaaten und ihre Gewerkschaften, die angesichts der Massenarbeitslosigkeit mit dem Rücken an der Wand stehen, fühlen sich anonymen Mächten ausgeliefert, die von Menschen beherrscht werden, deren Gier nach Geld ihre Hirne zerfrißt. Die Menschen leben und arbeiten in einer globalisierten Ökonomie, die eine Welt der Anarchie ist - ohne Regeln, ohne Gesetze, ohne soziale Übereinkünfte, eine Welt, in der Unternehmen, Großbanken und der ganze »private Sektor« unreguliert agieren können. Die globalisierte Ökonomie ist auch eine Welt, in der Kriminelle und Drogendealer frei und ungebunden arbeiten und Terroristen Teilhaber an einer gigantischen Finanzindustrie sind und so ihre mörderischen Anschläge finanzieren. Wo bleibt der Aufschrei der SPD, der CDU, der Kirchen gegen ein Wirtschaftssystem, in dem große Konzerne gesunde kleinere Firmen wie Kadus im Südschwarzwald mit Inventar und Menschen aufkaufen, als wären es Sklavenschiffe aus dem 18. Jahrhundert, sie dann zum Zwecke der Marktbereinigung oder zur Steigerung der Kapitalrendite und des Börsenwertes dichtmachen und damit die wirtschaftliche Existenz von Tausenden mitsamt ihren Familien vernichten? Den Menschen zeigt sich die häßliche Fratze eines unsittlichen und auch ökonomisch falschen Kapitalismus, wenn der Börsenwert und die Managergehälter - an den Aktienkurs gekoppelt - um so höher steigen, je mehr Menschen wegrationalisiert werden. Der gerechte, aber hilflose Zorn der Lohnempfänger richtet sich gegen die schamlose Bereicherung von Managern, deren »Verdienst«, wie sogar die FAZ schreibt, darin besteht, daß sie durch schwere Fehler Milliarden von Anlagevermögen vernichtet und Arbeitsplätze zerstört haben.
Das Triumphgeheul des Bundesverbandes der Deutschen
Industrie über die Billiglohnkonkurrenz aus dem Osten noch in
den Ohren, müssen marginalisierte und von der
Marginalisierung bedrohte Menschen sich vom politischen
und ökonomischen Establishment als Neonazis und
Kommunisten beschimpfen lassen, wenn sie radikale Parteien
wählen, weil es keine Opposition mehr gibt und sie sich mit
einer Großen Koalition konfrontiert sehen, die offensichtlich
die Republik mit einem Metzgerladen verwechselt, in dem so
tief ins soziale Fleisch geschnitten wird, daß das Blut nur so
spritzt, anstatt durch Bürgerversicherung und
Steuerfinanzierung die Löhne endlich von den
Lohnnebenkosten zu befreien. Nur Dummköpfe und
Besserwisser können den Menschen weismachen wollen,
man könne auf die Dauer Solidarität und Partnerschaft in einer
Gesellschaft aufs Spiel setzen, ohne dafür irgendwann einen
politischen Preis bezahlen zu müssen.
Heiner Geißler
Quelle: 'Zeit' v. 11.11.04, Nr. 47
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