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Das Thema Unterschicht
von Klaus Schramm Ich habe in meinem Redebeitrag am letzten Montag aufgezeigt, daß in Deutschland Kindern aus den unteren Schichten deutlich schlechtere Bildungs-Chancen zugestanden werden, als solchen mit Eltern aus dem oberen Drittel dieser Gesellschaft. Diese Kluft reißt weiter und weiter auf. Nun gefällt es manchen Leuten nicht, wenn die Tatsachen beim Namen genannt werden - wie dem Herrn mit dem roten Schal, Vizekanzler Müntefering - oder manche meinen, mit dem Begriff "Unterschicht" erst würden Menschen abgestempelt. Oder der Lebensabschnitts-Vorsitzende des SPD, Kurt Beck, meint, die von der unter der "rot-grünen" Schröder-Regierung rasant vorangetriebene Aufspaltung der Gesellschaft und Umverteilung von unten nach oben damit vernebeln zu können, daß er eine bessere Duchlässigkeit, bessere Aufstiegs-Chancen anmahnt. Diese mahnt er aber nicht bei denen an, die die Macht dazu hätten, sondern - mit erhobenem Zeigefinger, bei denen - ja wie soll er sie nun nennen - , die heutzutage von ihren Eltern nicht mehr zu hören bekämen "Streng dich mehr an, damit du was rechtes wirst". Die Aufstiegs-Chancen hängen nämlich - wie Kurt Beck anscheinend meint - davon ab, wie sehr sich der Einzelne am Riemen reißt. Am Riemen reißt, wenn er den Gürtel schon nicht mehr enger schnallen kann... Eine Leserbriefschreiberin in der Badischen Zeitung, Frau Wetzel aus Müllheim, kritisierte vor einer Woche Kurt Beck dafür, daß er das Wort "Unterschicht" in die Debatte gebracht habe. Generationen der Sozialdemokraten hätten doch "ihr Leben dafür eingesetzt, Sozialschwache nicht abzuwerten und sogenannte Schichten aufzubrechen". Ja was ist das denn eigentlich für ein Wort: "Sozialschwache"? Daran haben sich viele ja über Jahrzehnte gewöhnt und die Absurdität fällt kaum mehr auf. Sind Sozialschwache nicht eigentlich Herren wie Joseph Ackermann, die jährlich 12 Millionen Euro abkassieren und - nicht nur bei den eigenen Beschäftigten in der Deutschen Bank - sondern darüber hinaus durch etliche Beteiligungen und Verflechtungen den Druck von Monat zu Monat erhöhen, die Arbeit verdichten und Tausende, ja Zehntausende auf die Straße setzen. Warum muß denen so viel bezahlt werden? Weil es nur wenige Menschen gibt, deren soziales Gewissen so schwach ausgeprägt ist. Frau Wetzel meint nun aber, das Wort "Unterschicht" sei soziale Diskriminierung, ja: eine "Klassifizierung". Da steckt schon das ungeheuerliche Wort von der Klasse drin, das jeder rechte Sozialdemokrat seit den Zeiten von Friedrich Ebert scheut wie einst Bebel das Weihwasser. Andere Begriffe wie "Hartz-IV-Empfänger" oder "Langzeitarbeitslose" werden offenbar in der Öffentlichkeit nicht annähernd so diskriminierend eingeschätzt wie der von der Unterschicht. So schreibt Frau Wetzel weiter: "Will man riskieren, daß die Betroffenen und deren Kinder abgestempelt, und von den Markenkleidungsträgern noch mehr gehänselt und gequält werden?"
Die Frage sei erlaubt:
Wie so oft hier in Deutschland werden Ursache und Wirkung verwechselt. Und dann kommt auch noch der Begriff "minderbemittelt" - "aus minderbemittelten Familien kamen viele uns heute noch bekannte Persönlichkeiten" - wer kennt nicht noch den Spott über die geistig Minderbemittelten... Und zu guter letzt kommt Frau Wetzel genau da hinaus, wo Kurt Beck heimgeleuchtet hat: "Denn ihre Eltern hatten noch das Selbstbewußtsein, trotz größter Mittellosigkeit (also eine Null mit Ausrufezeichen!), den Kindern Mut zu machen: »Lernt nur tüchtig in der Schule, dann kann es bald besser werden. Wir schaffen es schon wieder.«" So richtig schön nach dem Motto: "Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied" Doch der eigentliche Witz bei der ganzen Geschichte besteht darin, daß ein Begriff wegretuschiert werden soll, der ja eigentlich das vielgelobte Verdienst der Sozialdemokratie beschreibt. Es ist noch nicht mal vier Jahrzehnte her, daß Soziologen wie Helmut Schelsky - wie ich meine zu recht - die deutsche Gesellschaft mit einem Schichten-Modell beschrieben. Zwischen Bürgertum und Protelariat aus der Frühzeit des Kapitalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten sich etliche (Speck-)schichten Mittelstand geschoben. Und - dies dank der Bildungsreform der 1960er Jahre und anderen gesellschaftlichen Veränderungen, die weniger die Folge sozialdemokratischem Reformeifers, denn gewerkschaftlichen Drucks und ökonomischer Notwendigkeiten waren - bis in die 1970er Jahre nivellierten sich die Übergänge zwischen den Schichten und die Duchlässigkeit nahm zu. Erinnert sei an Tarifabschlüsse im zweistelligen Bereich und die Eigenheimförderung. Dennoch gab es weiterhin - ganz oben die "oberen Zehntausend" - eine Oberschicht - und ganz unten die SozialhilfeempfängerInnen - eine Unterschicht. Nur: Das Gespenst des Kommunismus, der sich an der Aufteilung der Gesellschaft in zwei Klassen festgemacht hatte - die K-Grüppchen der 70er Jahre waren unentwegt auf der Suche nach dem verlorenen Proletariat - schien für alle Zeiten verscheucht. Doch mit dem Ende des Zeitalters der fossilen Energien - und dies wurde mit der "Energiekrise" 1975 zwar laut und deutlich eingeläutet doch es begann tatsächlich schleichend, jedoch mit immer größeren Schritten, beginnt auch das Ende des kapitalistischen Zeitalters. Offenbar ist dies nicht anders möglich als mit der Rückkehr des Aufteilung der Gesellschaft in zwei Klassen. Allerdings besteht die untere Klasse - die sich stetig vergrößernde Unterschicht - nicht mehr aus ArbeiterInnen, sondern weit überwiegend aus Erwerbslosen. Diese Menschen zu organisieren und zur gewaltfreien Gegenwehr zu motivieren stellt sich als weitaus schwieriger dar, als die Aufgabe der Arbeiterbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Viele haben noch gar nicht erkannt, um welche Aufgabe es geht...
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