MONTAGS-DEMO FREIBURG
Redebeitrag vom 6.11.06

»Gläserne Hartz-IV-Betroffene
- keine Transparenz bei Abgeordneten«

 

Wir müssen Sparguthaben, Lebensvericherung und freiwillige Zusatzrentenversicherung offenlegen und weitgehend aufbrauchen, bevor wir überhaupt einen Cent ALG II bekommen. Wäsche- und Kleiderschrank muß den ausgesandten Kontrolleuren geöffnet werden. Betten werden auf Spuren nicht gemeldeter "Bedarfsgemeinschafts"-Mitglieder untersucht. Ein eventueller Minijob wird auf ALG II angerechnet. Unsere Kinder werden unter Umständen für unseren Unterhalt in Anspruch genommen und müssen sich sozial durchleuchten lassen. Auch deren Arbeitgeber erhält davon Kenntnis.

Auch diejenigen, die für die Hartz-Gesetze verantwortlich sind, unsere Bundestagsabgeordneten, werden vom Steuerzahler alimentiert - allerdings mit dem 27-fachen Betrag. Doch Bundestagsabgeordnete klagen gegen ein wenig mehr Transparenz bei ihren Bezügen und Beraterverträgen - wegen Verstoßes gegen den Datenschutz...

Zu diesem Thema hier eine Rede
von Amish D. Leßmann

 

In letzter Zeit wurde in der Politik und den Medien darüber diskutiert, ob und inwieweit Bundestagsabgeordnete ihre Nebeneinkünfte angeben müssen sollen. Man hörte Klagen von Politikern, die solche Pflichten als Eingriff in ihre Privatsphäre und ihr Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung geißelten. Ein Abgeordneter, der gleichzeitig als Rechtsanwalt tätig ist, berief sich gar auf den Datenschutz und meinte, die diskutierte Regelung bedeute, daß er die Namen seiner Mandanten preisgeben müsse, was gegen die anwaltliche Schweigepflicht verstieße.

Doch woher sollen wir Bürger wissen, ob unsere sogenannten Volksvertreter tatsächlich unsere Interessen vertreten, oder ob sie nicht ein ihre ohnehin schon hohen Diäten übersteigendes Gehalt von einer großen Firma bekommen und in Wahrheit die Interessen der Industrie vertreten? Haben wir Wählerinnen und Wähler nicht das Recht, zu erfahren, ob die von uns Gewählten und Bezahlten auch tatsächlich bereit sind, ihren Auftrag zu erfüllen, oder ob sie nicht in Wirklichkeit ganz andere Ziele verfolgen?

Viele Mandatsträger sitzen in Aufsichtsräten - und zwar nicht nur von staatseigenen Unternehmen, deren Kontrolle sie aufgrund ihres Amtes auszuüben haben - oder sie haben lukrative Beraterverträge, bei denen nicht so ganz klar ist, wer hier eigentlich wen berät. Lassen sich wirklich die Wirtschaftsbosse für teures Geld Ratschläge von Politikern geben, oder ist es nicht vielmehr so, daß die Unternehmer den Abgeordneten sagen, welche Politik sie gefälligst zum Wohle der Wirtschaft machen sollen?

Ganz anders sieht es aus, wenn man mal die Auskunftspflichten von Hartz-IV-Betroffenen damit vergleicht: Ich selber lebe von Arbeitslosengeld II, weil mein Anfang 2002 mit Unterstützung des Arbeitsamts gegründetes Ein-Mann-Unternehmen noch nicht richtig läuft.

Nein, es genügt nicht, der ARGE einmal jährlich den Steuerbescheid vom Finanzamt vorzulegen. Es genügt auch nicht, wenn ich denen meine Bilanz vorlege wie beim Finanzamt. Da diese Leute nichts mit einer ordnungsgemäßen Buchführung anfangen können, muß ich extra für die ARGE zusätzlich eine auch für Laien verständliche Einnahme-Ausgabe-Rechnung anfertigen, und zwar für jeden einzelnen Monat gesondert.

Doch auch damit begnügt die ARGE sich nicht, denn das Finanzamt kann man bekanntlich bescheißen und die Bücher könnten ja frisiert sein. Ich muß also jeden einzelnen Beleg im Original vorlegen!

Und damit muß ich alle paar Monate bei denen aufkreuzen, eine Wartemarke ziehen, warten, mich an der Theke anmelden und dort zum x-ten Male sagen, daß ich die Unterlagen nicht an der Theke abgeben kann, weil ich einen Teil nach der Prüfung sofort wieder mitnehmen muß. Danach muß ich im hinteren Wartebereich wieder warten, bis mich ein zuständiger Mitarbeiter in sein Büro bittet.

Es ist, als ob ich alle Vierteljahre die Steuerfahndung im Haus hätte - nur mit dem Unterschied, daß ich mit all dem ganzen Papierkram selber hingehen muß. Die ARGE erfährt so ganz genau, in wessen Auftrag ich mit meinem Fahrradanhänger wann wie weit gefahren bin, ob es eine schwere oder leichte Fuhre war und wieviel dafür bezahlt wurde.

Sie kennt die Namen und Adressen fast aller meiner Kundinnen und Kunden.

Wo bleibt da der Datenschutz?! Und wieso steht jeder, der Arbeitslosengeld II bezieht oder beantragt automatisch unter Generalverdacht und muß ständig aufs neue beweisen, daß er nicht betrügt, während Andere seit Jahrzehnten unbehelligt Steuern in Millionenhöhe hinterziehen?!

Und jetzt sagen Sie mir bitte, wie das damit zusammenpaßt, daß es von Abgeordneten zuviel verlangt sein soll, ihren Steuerbescheid auf den Tisch zu legen und ihre wahren Brötchengeber zu nennen.

 

Anmerkung:

ich muß bezüglich meiner gestrigen Rede, die ich auf der 116. Montagsdemo gehalten habe, zurückrudern. Zumindest was mich betrifft, stimmt die von mir angeprangerte Praxis der ARGE so nicht mehr. Ich brauche wegen meiner selbständigen Tätigkeit künftig nur noch meinen Steuerbescheid vorzulegen.

Ich weiß jedoch nicht, ob diese Änderung nur für mich gilt oder für alle Gewerbetreibenden, deren Firma nicht genügend Gewinn macht, um davon leben zu können und die daher Arbeitslosengeld II erhalten. Ich weiß nicht, ob die wissen, daß ich dies immer wieder auf der Montagsdemo am offenen Mikrofon erwähnt habe und mir nun den Wind aus den Segeln nehmen wollen, oder ob es damit zu tun hat, daß ich habe durchblicken lassen, daß ich in ver.di bin und mich zu wehren weiß.

Da ich diese Rede jedoch gestern so gehalten habe und das was ich gesagt habe den bisherigen Tatsachen sowie meinem gestrigen Kenntnisstand entsprach, füge ich das von mir verfaßte Manuskript unverändert an.

Amish D. Leßmann

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